Schattensturm
dritten Reihe und fror erbärmlich. Trotz Regenmantel und sämtlichen Vorkehrungen, die sie als wettererfahrene Schottin eigentlich gut genug kennen sollte, hatte sie der Regen schon bei der Abfahrt in Stornoway völlig durchnässt. Seitdem saß sie mit kalten, klammen Kleidern im zugigen Bus, schlotternd und zitternd, und versuchte erfolglos, sich mit einer Zigarette nach der anderen von der Kälte abzulenken. Das Wissen, dass ihr als Druidin keine Erkältung oder gar Lungenentzündung drohte, machte die Kälte nicht erträglicher.
Brynndrech neben ihr starrte schweigend aus dem Fenster. Er war ein Druide aus Wales, den seine Familie noch als Säugling aufgrund seines Buckels zur Heilung nach Schottland gebracht hatte. Die Druiden des Glen Affrics hatten ihn nicht heilen können, doch sie hatten ihn in ihrer Gesellschaft akzeptiert. Er war der einzige Mensch auf der Welt, den Keelin als Freund bezeichnen würde. Er hatte die massigen Schultern eines Kriegers, sein wirrer Vollbart und die verfilzten Dreadlocks ließen ihn ungepflegt und wild erscheinen. Er hatte die ganze Fahrt über keine Anzeichen gezeigt, dass ihn das Wetter oder gar die Kälte irgendwiestörten, und rümpfte nur dann und wann die Nase, um seine Kritik gegenüber Keelins Zigarettenkonsum zum Ausdruck zu bringen. Ansonsten könnte man wegen seiner halbgeschlossenen Augen vermuten, dass er schlief, doch Brynndrech war wach. Wach und nachdenklich.
Der Busfahrer murmelte etwas durch einen knackenden Lautsprecher, das sich definitiv nicht nach »Callanish« anhörte. Doch der Bus fuhr nahe einem der verstreuten Wohnhäuser an den linken Straßenrand und hielt an, und niemand sonst machte den Anschein, hier in dieser gottverlassenen Gegend aussteigen zu wollen.
»Callanish?«, versuchte sie, den Sturm zu übertönen.
»Ja.«
Sie klopfte Brynndrech auf die Schulter, packte ihren Rucksack von der Sitzreihe auf die andere Seite und ging zum Ausgang gegenüber dem Fahrersitz. Der Sturm trieb den Regen nahezu waagerecht am Fenster vorbei. Die Scheibenwischer arbeiteten auf vollen Touren und waren trotzdem völlig überlastet. Ihr war es ein Rätsel, wie der Busfahrer so überhaupt etwas sehen konnte.
Sie verspürte nicht die geringste Lust hier auszusteigen. »Haus nummer acht?«, fragte sie, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Ja«, murrte der Busfahrer.
Sie zurrte die Kapuze auf ihrem Kopf fest und erschauerte, als eine besonders starke Böe am Bus rüttelte. »Okay«, erklärte sie, als sie damit fertig war und sich keine Spur gewappneter fühlte für das Wetter da draußen. »Danke!«
Der Fahrer öffnete die Tür, und die beiden Druiden sprangen aus dem Bus. Der Wind ließ Keelin taumeln und hätte sie beinahe von den Füßen geblasen, wenn Brynndrech sie nicht festgehalten hätte. Eisiger Regen prasselte ihr ins Gesicht und jagte einen Schauer durch ihren Körper. Eilig schwang sie den Rucksack auf ihren Rücken und betätigte die Klingel, die bei der Nummer acht freundlicherweise am Zauntürchen fern jeglichen Regenschutzes angebracht war.
Doch es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis der Türsummer erklang und sie einließ. Sie hastete die Treppe nach oben zur Eingangstür, wo eine Frau Mitte fünfzig in einem blaugeblümten Kleid und einer weißen Schürze erschien.
»Keelin«, stellte sich Keelin schlotternd vor. »Keelin Urquhart und Brynndrech Mackenzie.« Das stand auf den gefälschten Pässen, die sie beide trugen. Keelin empfand es nicht einmal mehr als falsch. Mit Keelin Winters konnte sie sich kaum noch identifizieren.
»Sehr erfreut.« Als sie ihren Blick über Brynndrech schweifen ließ, verzog sich die Mimik der Frau nur für eine Millisekunde, doch es war genug, um den Waliser zusammenzucken zu lassen und Keelin daran zu erinnern, wie verwahrlost der Junge für die Augen eines Außenweltlers aussehen musste. »Treten Sie doch ein.«
Der Raum dahinter war nicht im Geringsten so, wie sie es erwartet hätte. Er sah zu normal aus, zu wenig nach einem Sicheren Haus oder gar dem Wohnort eines Druiden der Pikten. An der Garderobe hingen an Bügeln ein paar Wollwesten, ein Hut, ein Gehstock und zwei graue Trenchcoats. Darunter stand ein Schränkchen, auf dem Schals und Handschuhe abgelegt waren. Es gab einen weiteren Schrank mit einer kleinen, spitzenverzierten Tischdecke und ein paar Nippesfigürchen darauf, es gab einen kleinen Tisch mit einer Blumenvase und einem in Gold gefassten Spiegel, und es gab natürlich die Blumentöpfe auf
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