Schattensturm
den Leuten?«, fragte Keelin überrascht. »Werden wir hier nicht … gesehen?«
»Bei diesem Wetter, Mrs. Urquhart? Ich glaube kaum. Und selbst wenn, hier in Callinish wohnen sehr viele Eingeweihte. Die restlichen Bewohner sind durchgehend Sympathisanten mit unserer Religion, so dass wir eventuellen Gerüchten schnell auf die Schliche kommen. Keine Angst, folgen Sie mir!«
Im nächsten Moment war er verschwunden.
Keelin starrte den nun freien Platz an. »Das gibt es doch nicht«, murmelte sie überrascht. Normalerweise war der Übergang zwischen den Welten ein etwas langsamerer Prozess.
»Sag niemals, das gibt es nicht«, erwiderte Brynndrech von hinten. »Die Germanen konnten angeblich so schnell wechseln. Vielleicht konnten wir das früher auch. Die Pikten kennen noch viele der obskuren alten Kräfte, die wir anderen Stämme längst vergessen haben.«
Keelin nickte. Sie bewegte sich inzwischen sicherer in der Gesellschaft der Innenwelt als er und konnte besser mit den Leuten umgehen, so dass es manchmal schwer war, sich in Erinnerung zu halten, dass Brynndrech im Gegensatz zu ihr in der Innenwelt geboren und aufgewachsen war. Die Selbstverständlichkeit, mit der er die Mystik von Magie und Religion der Druiden akzeptierte, würde sie nie erlangen.
»Nun denn«, murmelte sie und schloss die Augen. Dann ließ sie sich fallen in den magischen Pulsschlag dieses Ortes.
Der Sturm tobte auch in der Innenwelt, er pfiff und tobte und zerrte an dem Unterstand, von dem Mr. Sundby gesprochen hatte. Dabei handelte es sich um ein ledernes Zelt auf einem hölzernen Gerüst, das überraschenderweise dem Sturm standhielt. Keelin erlebte jedoch noch zwei viel größere Überraschungen. Die eine war, dass in dem Unterstand ein Wagen wartete, oder besser, eine Kutsche, komplett mit Kutscher und Pferden im Geschirr, einem braunen und einem weißen, die unruhig schnaubten.
Die zweite Überraschung war Mr. Sundby selbst.
Keelin hatte sein plötzliches Verschwinden so verblüfft, dass ihr das eigentlich Merkwürdige erst jetzt auffiel – er hatte sich im Gegensatz zu ihnen nicht umgezogen und trug immer noch seine Außenweltkleider, bestehend aus lackierten Schuhen, einer Anzugshose, dem Trenchcoat und dem Hut. Dabei hätte sie schwören können, dass es Außenweltkleidung war. Die Stoffe und vor allem die Nähte hatten so gleichmäßig, so maschinell gewirkt, dass sie keinen Zweifel daran gehabt hatte. Und dennoch stand er nun vor ihr und band sich den Trenchcoat zu, als ob es das Alltäglichste von der Welt wäre.
»Wie … Wie … Wie macht Ihr das?«, fragte Brynndrech, jetzt in der Innenwelt ins Gälische wechselnd.
»Was meint Ihr?«, erwiderte Mr. Sundby erstaunt.
»Das mit … ich meine … wie könnt Ihr … ist das, ich meine …« Wie immer, wenn Brynndrech überrascht oder nervös war, brachte er kaum einen Satz zustande. »Wie geht es, dass … dass Ihr immer noch …«
»Ach, meine Kleider?« Mr. Sundby lächelte. »Es ist nicht unmöglich, Gegenstände aus der Außenwelt hierherzubringen. Aber nun, steigt ein, wir wollen doch alle aus dieser Kälte kommen.« Er sprach das so aus, als wenn er über das Wetter von gestern sprechen würde und nicht über eines der größten Dogmen, die Keelin bisher gelernt hatte.
Kein Gegenstand geht von außen nach innen, der nicht zuvor von innen nach außen gegangen war.
Nicht einmal verarbeiten konnte man einen Gegenstand in der Außenwelt, ohnedass er für immer dort bleiben musste, so war es ihr beigebracht worden. Und es war offensichtlich falsch.
Der Kutscher sprang vom Wagen und hielt ihnen die Tür auf. Er trug einfache Kleider: eine lederne Hose und einen Mantel aus Wolle, beide offenbar aus der Innenwelt, dazu eine Mütze auf dem Kopf. Seine Miene war grimmig, aber das mochte am Wetter liegen. Keelin sputete sich jedenfalls mit dem Einsteigen. Die anderen beiden folgten ihr, und schon setzte sich die Kutsche in Bewegung.
»Wie macht Ihr das?«, fragte Brynndrech noch einmal, dieses Mal in einem Zug. Er hatte inzwischen offenbar genug Zeit gehabt, sich auf den Satz vorzubereiten.
»Wir benutzen einen Teil der Energie unseres Wächtergeistes dafür«, war Mr. Sundby’s Antwort. »Je weiter ein Gegenstand in der Außenwelt verarbeitet wurde, umso größer ist der Energiebedarf. Aber wie Ihr vielleicht wisst, ist der Wächtergeist dieses Steinzirkels inzwischen mehr als fünftausend Jahre alt. In Europa werdet Ihr nicht viele stärkere Geister
Weitere Kostenlose Bücher