Schattentänzer
entging keine meiner Bewegungen. Auf ihrer offenen rechten Hand funkelte eine kleine blutrote Kugel. Ich wusste sehr gut, was das war, weshalb es mich auch große Mühe kostete, meinen Blick von ihrer Hand zu lösen.
»Lady Jena.« So war sie mir damals auf dem Empfang von Balistan Pargaide vorgestellt worden.
»Ich freue mich, dass du mich nicht vergessen hast, Dieb.« Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, die Stimme stand jedoch in scharfem Gegensatz zu ihrem Äußeren. Sie klang sehr, sehr müde. »Du willst deinen Lebensabend doch noch erleben, oder?«, fragte sie plötzlich.
»Ich trage mich durchaus mit dieser Absicht.«
»Dann würde ich dir raten, der Selena fernzubleiben. Solltest du weitergehen, müsste ich dich aufhalten.«
»Ich glaube, Euer Herr hat Euch verboten, mir etwas anzutun.«
»Nur, solange du mir nicht in die Quere kommst. Du willst doch nicht die Würmer füttern, oder?«
»Ich glaube, der Sendbote hat mir Hoffnung gemacht, unsterblich zu sein.«
»Alle, die den Häusern angehören, sind unsterblich. Selbstverständlich nur außerhalb der Häuser. Dieser Saal ist jedoch die Vorhalle zum Haus des Schmerzes, und hier sind wir beide, du und ich, sterblich. Also zieh dich zurück, Dieb!«
»Wie Ihr meint, Lady Jena.« Ich hatte alles gehört, was ich wissen musste, und wich langsam zurück. Ich war kein Selbstmörder und würde mich nicht auf einen Streit mit einer der mächtigsten Zauberinnen einlassen.
Sie verfolgte nach wie vor aufmerksam jede meiner Bewegungen, und ich bat nach wie vor Sagoth, es möge alles gut ausgehen und Lady Jena nicht auf die Idee kommen, die blutrote Kugel auf mich zu schleudern, obwohl ihr Herr ihr das verboten hatte. Sobald ich mit dem Rücken gegen die unsichtbare Wand stieß, bewegte sich Lathressa auf die Selena zu. Offenbar hatte sie den Schattentänzer doch gefürchtet (ein Gedanke, der mir schmeichelte). Vor dem violetten Mond zögerte sie kurz, dann trat sie auf die Selena. Ein samtenes, von der Selena ausgehendes Leuchten hüllte sie ein. Umgeben von diesem Licht löste sich Lady Jena langsam vom Mond und stieg zu den Sternen über ihr auf. Sie lachte befreit, und dieses Gelächter von wahrhaft kindlicher Freude verlor sich zwischen den Sternen, die in einem heiteren Reigen um sie kreisten.
Lady Jena hatte mich völlig vergessen. Trotzdem rührte ich mich nicht von der Stelle. Ich hätte erwartet, dass sie mir triumphierend ins Gesicht lachen oder etwas wie »Nun ist das Horn des Regenbogens mein« sagen würde, aber nichts davon geschah.
Lady Jena wurde im Licht der Selena zum Horn des Regenbogens hinaufgetragen, das unverändert sein Lied sang: U-u-u-u-u-u-u-u-u-o-o-o-o-o-o.
Doch dann ging das Violett der Selena in Schwarz über, und ihr Licht verblasste. Die Sterne um Lathressa explodierten, loderten blutrot und regneten vom Himmel. Kein einziger von ihnen erreichte jedoch den Boden, alle schmolzen sie in der Luft. Kaum fehlte das Licht der Selena, da stürzte Lathressa in den Mond hinein. Dabei kam ihr kein einziger Laut über die Lippen.
Ein Sturz aus einer derartigen Höhe ist immer tödlich, doch hier war er sogar doppelt tödlich. Der Tod in einem der Großen Häuser ist selbst für diejenigen endgültig, die bislang unsterblich waren.
Sobald ich den violetten Mond vor mir gesehen hatte, war mir die Warnung jenes Bettlers im Tempel des Sagoths wieder eingefallen, nicht auf die Selena zu treten. Deshalb hatte ich mich auch nicht von der Stelle gerührt und Lathressa in die Falle laufen lassen. Die Goldmünze, die ich dem Bettler gegeben hatte, hatte ich gut angelegt.
Unter dem zerschmetterten, verrenkten Körper sickerte dunkles Blut hervor. Bis zuletzt wollte ich nicht glauben, dass ich Lathressa überlistet hatte.
U-u-u-u-u-u-u-o-o-o-o-o-o! Das schmerzvolle Lied des Horns holte mich in die Wirklichkeit zurück.
Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben, um den Ort auszumachen, an dem sich das Horn des Regenbogens befand. Natürlich sah ich nichts. Es war einfach zu hoch.
Während ich noch hinaufspähte, sickerte der Körper Lathressas allmählich in die Selena, als wäre sie nichts als weicher Schleim. Kurz darauf war Lady Jena, die uns solche Schwierigkeiten bereitet hatte, für immer in dem schwarzen Mond verschwunden, und nur wenig später färbte sich die Selena erneut violett, und es leuchteten wieder Tausende von Sternen.
In der Mitte der Selena funkelte etwas. Ich kniff die Augen zusammen,
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