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Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schattentag: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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tropft.
    Vera serviert Zitronenparfait mit Kiwischeiben. Dann setzt sie sich neben mich auf das Sofa und schmiegt sich an mich. Ich streiche eine Weile über ihr Haar.
    Wir spielen ein Gesellschaftsspiel. Einer erklärt einen Begriff, ein anderer muss ihn erraten, und der, der den Begriff erklärt, darf bestimmte Schlüsselworte nicht verwenden.
    Wir lachen viel. Ich fühle mich wohl. Würde ich draußen im Schneegestöber stehen und uns durch die Fensterfront beobachten, würde ich etwas sehen, das mir gefällt.
    Gegen Mitternacht versuche ich, Vera das Wort Liebeskummer zu erklären, ohne die Begriffe Herz, Schmerz, Frust und Trauer zu verwenden.
    »In der Liebe …«, beginne ich.
    Weiter komme ich nicht, weil Sandra schreit, ich hätte einen Fehler gemacht. »Liebe, das kommt doch im gesuchten Wort vor, das darfst du nicht sagen, Liebe kommt in Liebeskummer vor.«
    Sandra hat recht. Vera und ich belegen in der Endabrechnung Platz zwei vor Judith und meiner Mutter, Sieger sind Sandra und mein Vater.
    »Sieg der Taktik!«, posaunt mein Vater und hebt Sandra in seine Arme. Wenig später hat Vera für Judith das Gästebett hergerichtet, und meine Eltern ziehen ihre Mäntel an. Sie werden auf ihrer Fahrt nach Hause etwa vier Stunden lang unterwegs sein. Wir bieten ihnen an, über Nacht zu bleiben, aber wie jedes Jahr lehnen sie ab, weil meine Mutter keine Umstände machen möchte und mein Vater gerne in seinem eigenen Bett schläft.
    Wir winken von der Haustür aus, mein Vater drückt drei Mal die Hupe, Sandra lacht und hüpft, und ich sehe, wie meine Mutter mich durch die beschlagene und vereiste Scheibe müde, aber liebevoll anlächelt.
    Ich sehe sie in diesem Moment, einem glücklichen Moment, zum letzten Mal, aber das weiß ich damals noch nicht, dieses Wissen liegt in der Zukunft, und auch
    der Aufenthaltsort des Affen bleibt unbekannt.

14
    Mara hat mich bewusstlos gestreichelt, Mara weckt mich streichelnd, und jemand klopft an die Tür.
    »Das wird der Polizist sein«, sagt Mara und geht, um zu öffnen. Ich sehe, wie ihr Schattenriss sich entfernt.
    »Sag, dass wir keine Zeit haben, dass wir …«
    Aber Mara ist wohl schon außer Hörweite.
    »… dass wir den Tag verschlafen wollen«, flüstere ich.
    Es bleibt erst eine Weile still, dann zieht sich die Stille in die Länge.
    »Mara?«
    Keine Antwort. Ich stehe auf, suche nach meinen Kleidern und ziehe mir etwas über. Dann taste ich mich an den Wänden entlang nach draußen. Ich konzentriere mich darauf, Maras Stimme zu hören, aber ich höre sie nicht.
    »Mara?«
    Einen Menschen verlieren, als ob man ihn besitzen könnte.
    »Mara, war da der Polizist?«
    Die Haustür steht offen. Lauer Wind weht herein. Ich stehe im Türrahmen und betrachte grau auf schwarz das bunte Bild in meinen Gedanken.
    Grün der Hügel.
    Gelb die kargen, trockenen Pflanzen und Maras Fahrrad, das an der Wand des Holzhauses lehnt.
    Rot das Holzhaus.
    Grau die Klippen am Rand der Insel.
    Ich laufe los, den Hügel hinab. Unten angekommen, wende ich mich noch einmal um und sehe das Holzhaus als Schattenriss.
    »Bis gleich, Mara«, sage ich.
    Dann taste ich mich in das Feld, das vor mir liegt. Orange der Himmel. Ich taste mich vorsichtig voran, mit behutsamen, bewussten Schritten, jeder gleich lang. Mein Ziel ist das Zentrum.
    Der Mann, der mich verfolgt, trägt einen Hut aus Stroh. Sein Gesicht ist leer, nicht schwarz, leer, es existiert nicht. Dennoch hat es einen Ausdruck. Den von Gleichgültigkeit. Ich bin geborgen in Angst, aber ich beginne, meine Schritte zu beschleunigen, ich beginne zu rennen, und ich vergesse etwas, das wichtig gewesen ist. Jeden Schritt gleich lang zu setzen. Die Sonne ist inzwischen untergegangen, die Grundfarbe ist Goldgrau oder Graugold. Die Farbe senkt sich wie ein Schleier herab und hüllt das Bild ein.
    Einen Menschen besitzen wollen, um ihn verlieren zu können.
    Ich bin auf dem Weg ins Zentrum. Ich weiß, dass ich es nicht finden würde, müsste ich danach suchen. Aber ich muss nicht suchen. Das Zentrum zieht mich an, es ist das Ziel.
    Am Ziel wartet mein Verfolger. Er mustert mich schweigend, als ich aus dem Dickicht auf die Lichtung trete. Ich sehe durch sein Gesicht auf das rote Holzhaus in weiter Ferne.
    »Du bist eine Weile im Kreis gelaufen«, sagt er.
    »Bin ich?«
    »Immer und immer wieder.«
    »Vermutlich hast du recht.«
    »Zurück nimmst du besser einen kürzeren Weg.«
    »Das wird sich zeigen müssen.«
    »Du willst dich treiben

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