Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
strecke die Hand aus und taste die bröckelnde Fassade ab.
»Mara?«
Ich taste mich an der Wand entlang, bis ich ins Leere greife und gegen die erste der Treppenstufen stoße, die zum Eingang hinaufführen. Es sind vier flache Stufen bis zur Drehtür, die geölt werden müsste. Ich stehe in einer großen Halle, ich spüre die Weite. Es ist kalt.
»Mara?«
Die Rezeption scheint nicht besetzt zu sein. Ich streiche mit der flachen Hand über das glatte Metall eines Tisches und sehe grau auf schwarz Staub wirbeln. Hier also arbeitet Mara.
Ich taste mich an den Wänden entlang, in rechten Winkeln, bis ich gegen die erste der Treppenstufen stoße, die nach oben führen, zu den Zimmern. Ich beginne zu laufen.
»Mara?«
In jedem Stockwerk halte ich inne und lausche auf Geräusche. Ein Staubsauger vielleicht. Oder Stimmen, vielleicht Maras Stimme. Mara, die sich mit Kolleginnen unterhält. Die meisten Türen stehen offen. Ich taste, bis ich die Zimmer vor mir sehe, ein Schrank, ein Bett, ein runder, in die Wand eingelassener Tisch, ein Fernseher. Eine Nachttischlampe. Ein Einzelzimmer. Das Laken riecht frisch, Mara ist schon hier gewesen, ich stelle mir vor, es sei vor wenigen Minuten gewesen. Die Gäste sind vermutlich am Strand.
Ich laufe weiter nach oben, immer weiter, bis ich im Freien stehe, auf dem Balkon, den Mara mag, weil sie von ihm aus alles überblicken kann.
Lauer Wind.
Gänsehaut.
Das Meer rauscht in der Ferne.
Mara ist nicht hier.
Ich höre meine Stimme einen Satz sagen, der folgenlos verhallt, denn wenn Nichtgesagtes unerheblich ist, ist Gesagtes nichts.
Frühling. Mittag. Mittagspause. Eine Bank und ein Stromanbieter haben größere Aufträge zurückgezogen. Sonne bricht durch Jalousien. Ich sterbe schnell und heftig. Marlene wirft das Kondom in ein Taschentuch, das Taschentuch in den Müll. »Bis bald, Süßer«, sagt sie. »Bis bald«, sage ich. Mit dem Aufzug nach unten. Mit dem Auto zurück ins Büro.
Das Letzte, was mein Vater zu mir sagt, ist: »Mach’s gut, Junge.«
Wir stehen vor meinem Elternhaus und halten uns in den Armen. Zwei Tage sind seit der Beerdigung meiner Mutter vergangen. Ich wende mich ab und laufe zum Wagen. Vera und Sandra warten dort schon.
Ich starte den Wagen und winke meinem Vater durch die Windschutzscheibe zu. Vera winkt, Sandra winkt. Mein Vater hebt den Arm, der eine Weile bewegungslos in der Luft verharrt. Durch den Rückspiegel sehe ich noch, wie er den Arm langsam sinken lässt.
Die Fahrt dauert vier Stunden. Vera sitzt hinten bei Sandra und spielt mit ihr Karten, um sie abzulenken. Sandra ist traurig.
Während ich höre, wie Sandra und Vera Karten spielen, weiß ich noch nicht, dass ich die Strecke in sechs Wochen wieder fahren werde, in die andere Richtung. Sandra und Vera werden dann nicht dabei sein, weil wir der Meinung sind, dass es für Sandra zu viel wäre und weil Vera zu Hause bei Sandra bleibt.
Ich werde auf demselben Friedhof stehen, die Stimme desselben Pfarrers hören und anschließend mit denselben Verwandten ähnliche Kuchen essen.
Es wird irgendwie gewollt sein, und ich werde selbst überrascht darüber sein, aber während ich Erde auf das Grab meines Vaters schaufele, werde ich leise, unhörbar für andere, flüstern: »Mach’s gut, Papa.«
Es ist viele Jahre her, seit ich ihn so genannt habe. Lange habe ich ihn überhaupt nicht benannt, ich habe die Anrede vermieden, weil ich nicht gewusst hätte, wie ich ihn hätte nennen sollen.
Ich werde am Abend dieses Tages zurück zu unserem Bungalow fahren.
Die Fahrt wird vier Stunden dauern.
Und irgendwann, zu einem bestimmten Zeitpunkt, rollt tatsächlich ein Mann in einem Rollstuhl durch mein Bild. Ein Mann, den ich gekannt habe. Der Mann kennt mich.
16
Ein Lied, das vergessen war. Eine Reise in einem blauen Kleinbus. Wir sitzen vor einem Lagerfeuer auf kühlem Sand am Meer. Ich erzähle eine wirre Geschichte, um einem Mädchen zu gefallen, das mir gefällt. Das Mädchen, dem ich gefallen möchte, ist eingeschlafen. Ich stehe auf und renne ins Wasser. Der Himmel ist schwarz, keine Sterne. Einer meiner Freunde taucht neben mir auf und beginnt, das lange vergessene Lied zu summen. Das Mädchen, das wieder aufgewacht ist, stimmt mit seiner hellen, klaren Stimme ein. Ich sehe sie am Ufer stehen. Ich bin sehr betrunken. Ich übergebe mich, während ich zurück Richtung Ufer schwimme. Das Mädchen lacht darüber. Sie ruft, dass ich gekotzt habe, und jetzt lachen meine Freunde. Ich lache
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