Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
auch und wate aus dem Wasser. Mir ist schwindlig. Das Mädchen fährt mir durchs Haar, als ich bei ihr bin. Sie reicht mir ihre Weinflasche, und während ich versuche, den Geschmack des Weins zurück auf meine Zunge zu zwingen, versickert die Erinnerung in Nichts.
So gesehen, habe ich mich ziellos auf ein Ziel zutreiben lassen.
Frühsommer. Später Nachmittag. Hinter dem Hochhaus brennt die Sonne. Mein Finger drückt den Klingelknopf, ich senke den Kopf. Die Tür wird geöffnet. Ich lasse mich in den elften Stock befördern und alles Weitere ablaufen, bis Laura, Marlenes neue Kollegin, endlich unter mir liegt mit geschlossenen Augen. Zurück im Büro, haben wir etwas zu feiern. Einen Auftrag für einen schwedischen Mobilfunkanbieter. Mein Kompagnon köpft die Flasche und lockert seinen Krawattenkragen. »Junge, Junge, das reißt uns erst mal raus«, sagt er. »Die fanden deine Grafiken sensationell.« Er prostet mir zu.
Später rufe ich Vera an und frage, wie ihr Tag in der Schule war. In Ordnung. Ob ich Sandra am Abend vom Reiten abholen könnte. Natürlich. Ich sei ein Schatz, sagt Vera. Es sei schön, meine Stimme zu hören.
Katastrophen liegen fern, denn sie sind bereits passiert.
Ein Gedanke, verziert mit Fantasie, wird eine Geschichte, erweitert um Schwindelgefühl und Müdigkeit ein Traum. Reduziert um Bewusstlosigkeit Gegenwart und angereichert mit nicht gekannten Schmerzen Wirklichkeit, die dringend einer Erklärung bedarf.
Zurück im Holzhaus. Das Holzhaus sei rot, hat Mara gesagt. Ihre Stimme in meinem Kopf, die Art, wie sie am Ende des Satzes eine Frage zu stellen scheint. Als wolle sie in Wirklichkeit mich fragen, welche Farbe das Holzhaus hat. Ausgerechnet mich. Manchmal verstehe ich Mara nicht. Ich sitze auf dem Boden und habe begonnen, auf ihre Rückkehr zu warten.
Nicht zu beantworten, aber die Lösung verbirgt sich vielleicht hinter der behutsamen Annäherung, hinter dem geruhsamen Sicherinnern. Man muss sich nur die Zeit dafür nehmen. Entspannen, sich zurücklehnen und warten, bis sich alles ineinanderfügt. Irgendwann machen viele Gedankenfetzen eine Geschichte. Eine Geschichte mit Anfang und Ende. Eine Geschichte, die jeder versteht. Unterteilt in gleich lange Kapitel. Identisch die Zahl der Sätze, Worte und Buchstaben. Symmetrisch. Alles geht auf, und ich werde mich zur Ruhe begeben ohne eine gottverdammte Frage im Kopf.
Zum Beispiel: Wo ist der Affe aus Stoff?
Es ist schwer, eine Suche zu beginnen, wenn man nicht die geringste Ahnung hat, wo sich das Gesuchte befinden könnte. Man ist wie gelähmt, man kann sich nicht entscheiden, in welche Richtung man die Suche zuerst lenken soll, man bleibt stehen und versucht es mit Nachdenken. Aber das Nachdenken fällt schwer, denn die Beine zittern, man hört Vera weinen, obwohl im Fernseher Comedy läuft. Man möchte ins Wohnzimmer gehen und Vera streicheln, aber man bleibt im Dunkel stehen, am Fuß der Kellertreppe, und konzentriert sich zwanghaft auf den Affen aus Stoff. Stoffaffe, Stoffaffe, Stoffaffe.
Es liegt nicht lange zurück, es ist erst kürzlich gewesen. Sandra ist 12 Jahre alt. Mikelsen und Gattin sind schon im Urlaub, in dem sie sich immer noch befinden, so nah liegt dieses Ereignis der Gegenwart. Ich verspüre Lust auf Chronologie. Zum Beispiel: Wie oft habe ich in den vergangenen drei Jahren Sandra vom Reiten abgeholt? Irgendwann muss ich alles ordnen.
Später Sommer. Früher Abend. Im elften Stock ist es kühl und schattig. Viviana sitzt auf mir und stöhnt, bis ich komme. Zurück nach unten, in die Abendsonne. Niemand begegnet mir. Im Wagen rücke ich meine Krawatte zurecht. Anfahren, Fenster auf, Arm raus. Das Handy klingelt eine klassische Melodie. Bevor ich rangehe, denke ich darüber nach, den Klingelton zu wechseln. Ich sehe schon auf dem Display, dass es Vera ist. Kurz durchatmen, ein wenig beschleunigen.
»Hallo, Liebes.«
»Wo bist du?!« Ihre Stimme ruhig und kalt.
»Ich …«
»Wieso bist du nicht bei Sandra?!« Sie schreit.
»Was ist …«
»Du solltest Sandra abholen.« Sie weint.
»Entschuldige …«
»Weil du nicht gekommen bist, hat sie beim Springen mitgemacht.«
»Ah …«
»Weil du nicht da warst, und weil ihre Freundinnen sie überredet haben.«
»Ist …«
»Sie ist vom Pferd gefallen. Ich bin im Krankenhaus.«
»Ich … ich …«
Vera hat aufgelegt. Ich wähle sie an und bekomme die Mailbox.
Ich fahre ins Krankenhaus. Die Grundfarben sind Weiß, Braun und Rot. Vera sitzt auf dem Gang,
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