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Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schattentag: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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bringt.
    Ich sitze auf dem Sofa und sehe Sandra beim Auspacken der Geschenke zu. Sie hält jedes Paket ans Ohr, starrt es an, als müsse sie sich konzentrieren, reißt alles auseinander, bis das Papier in Fetzen vor ihr liegt und das Geschenk in ihren Händen ruht. Ich frage mich, ob und wann Sandra etwas an diesem Ablauf ändern wird.
    Vera werkelt in der Küche, Judith sitzt im Sessel und blättert in einem Bildband über europäische Metropolen, den Vera und ich ihr geschenkt haben.
    Meine Mutter erklärt Sandra, wie sie eine Puppe zum Sprechen bringen kann. Sandra nickt, aber ich sehe, dass sie nicht zuhört.
    »Ich spiele doch nicht mehr mit Puppen«, wird sie mir später zuflüstern, und mein Vater schießt ein Foto von Sandra und meiner Mutter in einem Moment, in dem meine Mutter strahlt und Sandra mürrisch blinzelt.
    »Essen kommen!«, ruft Vera.
    »Du hast deine Geschenke noch nicht ausgepackt«, ruft Sandra.
    »Später. Sonst wird die Suppe kalt.«
    In der Tomatensuppe schwimmt ein Sahnehäubchen.
    »Mhmmmmm«, sagt mein Vater. Vera lächelt.
    Vera, ich liebe dich, denke ich und sage: »Sehr lecker.« Ich streiche leicht über Veras Arm. Die Suppe schmeckt gut. Mein Vater schaufelt sie geräuschvoll in sich hinein, meine Mutter löffelt bedächtig und Judith hastig mit gutem Appetit.
    Sandra rutscht auf dem Stuhl hin und her, weil im Wohnzimmer die Geschenke auf sie warten.
    Nach der Suppe kommt die Gans.
    »Die Gans ist noch ganz«, sagt mein Vater.
    »Sehr lecker«, sage ich wieder, und es schmeckt wirklich gut. Ich schlucke das Fleisch in kleinen Bissen herunter. »Sehr lecker«, wiederhole ich, als Veras Blick mich trifft, und wende mich ab.
    Vivianas neue Kollegin nennt sich Marlene. Nach dem Essen gehen wir spazieren. Die verschneiten Häuser, die Gärten sind in Schwarz gehüllt. Das Licht der Straßenlaternen ist schwach und flackert. Mein Vater reckt seinen Hals, um Blicke in Wohnzimmer zu erhaschen.
    »Man wird doch wohl schauen dürfen, wie die Leute Weihnachten feiern«, sagt er und nach einer Weile: »Guck dir das an, die streiten!«
    »Wo?!«, fragt Sandra und steht schon neben ihm.
    »Oh«, sagt mein Vater betreten.
    »Was denn?«, fragt Judith.
    »Die hat ihm eine runtergehauen«, sagt mein Vater.
    »Ja, die hat richtig zugeschlagen!«, jubiliert Sandra.
    »Kennt ihr die?«, fragt mein Vater.
    »Lass uns weitergehen«, sagt Vera.
    »Die prügeln sich ja!«, schreit Sandra.
    »Schschsch, still, die hören uns sonst«, flüstert Judith.
    »Das sind die Eltern von Saskia aus meiner Parallelklasse«, flüstert Sandra Judith zu. Meine Mutter steht abseits und bemüht sich, an dem hell erleuchteten Wohnzimmer vorbeizusehen.
    »Lass uns weitergehen«, sagt Vera noch einmal.
    »Mannomann«, flüstert Sandra. Der Mann im Wohnzimmer stößt einen stummen Schrei aus und schleudert der Frau seine Hand ins Gesicht. Dann liegt die Frau auf dem Boden und mein Vater sagt: »Na, fröhliche Weihnachten.«
    »Sollten wir nicht irgendwas machen? Die Polizei rufen?«, fragt Judith.
    Sie erhält keine Antwort. Alle, mit Ausnahme meiner Mutter, starren auf die Wohnzimmerszene. Im Hintergrund sehe ich einen geschmückten Weihnachtsbaum mit Kerzen, die brennen. Ein Kind läuft durch das Bild, es wird Saskia sein. Sie weint und klammert sich an ihre Mutter, die inzwischen wieder steht, auf schwachen Beinen. Der Mann macht halbherzige Gesten, als wolle er ihr die Hand reichen, er scheint zur Besinnung zu kommen.
    »Aber Saskias Mutter hat angefangen«, flüstert Sandra.
    »Das spielt keine Rolle, Sandra«, sagt meine Mutter.
    »Na, wird schon wieder«, sagt mein Vater und wendet sich ab. Er nimmt Sandra an der Hand und murmelt im Gehen noch einige Male: »Wird schon wieder.«
    Das Letzte, was ich in dem Wohnzimmer wahrnehme, ist eine kurze Bewegung, ein Schritt des Mannes in Richtung der Frau und ein Schritt der Frau in Richtung der Fensterfront, durch die wir das Geschehen beobachten.
    Ich löse mich und folge den anderen, die sich schon einige Meter entfernt haben.
    Wir laufen noch eine Weile durch den Winter, durch unsere Siedlung von Bungalows, die alle vom selben Architekten stammen und deshalb alle durch dieselbe Fensterwand Einblick gewähren. Aber mein Vater hütet sich, noch einen einzigen Blick nach links oder rechts zu werfen, und in der Zwischenzeit ist
    auf der Insel der Hagelschauer in einen frischen Sommerregen übergegangen und der Regen in Wasser, das durch die Regenrinne abfließt und von Bäumen

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