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Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schattentag: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Pfarrer.«
    Ich folge ihrem Blick und sehe den jungen Mann, der Kerzen anzündet und einer Gruppe von Kindern letzte Anweisungen gibt.
    »Das ist der neue Pfarrer. Der alte hat aufgehört.«
    »Oh«, sagt Judith.
    »Vera hat gehört, dass er schon seit Jahren Prostatakrebs hat.«
    Judith nickt vor sich hin. Sie hat den alten Pfarrer gemocht.
    »Aber Vera sagt, dass der Neue sehr gut sein soll. Er gibt sich wirklich Mühe«, sage ich.
    Die Kinder, auf die der junge Pfarrer einredet, tragen Kostüme, einige haben ihre Gesichter mit brauner Farbe angemalt. Ich sehe Joseph, Maria, die Heiligen Drei Könige und mehrere Hirten.
    »Sie spielen die Weihnachtsgeschichte«, sage ich zu Judith.
    »Hauptsache, der Mann findet auch ein paar starke Worte in der Predigt«, meint mein Vater. »Das ist ja kein Kindergeburtstag hier.«
    Dann beginnt der Gottesdienst mit einem Lied, das ich nicht kenne, aber da ich es versprochen habe, singe ich laut mit, so laut, dass Sandra auf der Balustrade mir anschließend zuklatscht. Sandras Freundin kichert, und auch Vera neben mir findet es lustig. Meinen Eltern ist nichts aufgefallen, was vermutlich damit zusammenhängt, dass meine Mutter nicht mehr gut hört und mein Vater selbst laut mitgesungen hat. Judith scheint peinlich berührt zu sein.
    »Hoffentlich kennst du beim nächsten Lied wenigstens die Melodie«, meint Vera.
    Die Kinder spielen die erste Szene der Weihnachtsgeschichte. Ich lasse mich von der Monotonie des Ablaufs einlullen und konzentriere mich darauf, wenn gesungen wird, gut bei Stimme zu sein. Die Predigt des Pfarrers ist schwach. Ich werfe einen Seitenblick auf meinen Vater, der das ähnlich sieht, seine Miene verfinstert sich zusehends. Meine Mutter steht schmal und klein neben ihm und hört dem jungen Pfarrer aufmerksam zu. Sie scheint nichts um sich herum wahrzunehmen. Ich poltere bei »Kommet, ihr Hirten« richtig los und werde mit einem breiten Lächeln von der Balustrade belohnt.
    Ein Stechen in der Magengrube.
    Während wir das Vaterunser sprechen, schere ich aus dem Sprechgesang aus und bete wie schon seit einigen Jahren im Stillen um Vergebung für meine Sünden. Meine gefalteten Hände zittern ein wenig, aber ich bringe es zu Ende, während um mich herum auch das Vaterunser der Kirchengemeinde verebbt.
    »Amen«, sagt Vera.
    Ich blicke auf sie hinab. Ich denke, dass heute ein schöner Tag ist und dass ich Vera liebe, und nehme mir vor, nachher ihr Essen zu loben. Ich streiche mit der Hand über ihren Rücken.
    Der Pfarrer erläutert, wem die Kollekte des Abends zugutekommen soll, und wir setzen uns in Bewegung, um die Kirche zu verlassen. Ich lasse einen Schein in das Körbchen fallen und gebe Sandra ein paar Münzen, damit sie auch etwas reinwerfen kann.
    Draußen stehen wir noch eine Weile in Gesprächen mit Menschen, die wir ein wenig kennen. Vera hat Mühe, sich zu lösen, ihre Schülerinnen und Schüler kleben an ihren Beinen, als wollten sie lieber mit ihr Weihnachten feiern als mit ihren Eltern. Ich beobachte Vera aus den Augenwinkeln und denke, dass sie eine wunderbare Lehrerin sein muss.
    Der Schneefall hat nachgelassen, aber er liegt mehrere Zentimeter dick auf Bäumen, Hausdächern und Autos. Sandra stopft mir einen Schneeball in den Mantelkragen.
    »Sandra, lass das doch«, sagt Judith, und mein Vater lacht. Ich bücke mich, fülle beide Hände mit pappigem Schnee und renne hinter Sandra her.
    »Nicht, Papa, nicht, Papa!«, schreit Sandra.
    Nach einer Weile bleibe ich stehen, weil Sandra zu schnell und wendig für mich ist, und mein Blick trifft den meiner Mutter, die abseitssteht. Ihr Blick ist milde und wissend, als seien für sie komplizierte Dinge nur Schall und Rauch.
    In meiner Erinnerung sitzt meine Mutter neben meinem Vater und hört geduldig und konzentriert den Geschichten zu, die er erzählt. Sie scheint die Einzige zu sein, die sich nicht daran stört, dass sich die Geschichten meines Vaters in einer Endlosschleife wiederholen.
    Irgendwann hat Vera allen Schülern und Eltern ein frohes Fest gewünscht, und wir gehen zu den Autos. Die Straßen, auf denen wir zurück zu unserem eingeschneiten Bungalow fahren, sind von braunem Matsch bedeckt, und manchmal fürchte ich
    die Insel könnte nur aus Maras Holzhaus bestehen, aus dem grünen Hügel, aus unserem Bett und Maras rosarotem Rucksack und dem gelben Fahrrad und dem Rauschen des Meeres, und aus Sonne und Wärme und aus kalten Nächten und ab und zu einem Hagelschauer, der mich zum Lachen

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