Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
lassen?«
»Viel einfacher. Ich kann nichts sehen. Ich taste mich voran. Ich rate nur.«
»So betrachtet, waren deine Kreise sehr rund.«
»Danke.«
»Sehr ebenmäßig.«
»Danke.«
»Jetzt mach, dass du wegkommst.«
Ich ducke mich und tauche zurück ins Dickicht.
Ich taste mich voran.
Bis gleich, Mara, denke ich, denn die erste der Ewigkeiten, die uns trennen, ist schon vergangen.
15
Eine einfache, nicht zu beantwortende Frage.
Meine Mutter stirbt innerhalb eines unwirklichen Tages an einer Krebserkrankung, die sie meinem Vater und mir bis zum Schluss verschwiegen hat.
Sie schreit mit einer Stimme, die mein Vater nicht kennt. So schildert er es später, denn ich bin nicht dabei, als es passiert. Mein Vater ruft den Arzt, der Arzt die Ambulanz, die Ambulanz bringt meine Mutter ins Krankenhaus. Im Krankenhaus stirbt sie.
Mein Vater erleidet einen Schock, von dem er sich nicht erholen wird. Als ich ihn wiedersehe, kurz vor der Beerdigung, sehe ich einen anderen Menschen. Er steht gebückt und wirkt schmal, was besonders auffällt, weil er ein großer, kräftiger Mann gewesen ist.
Etwas in ihm ist zerbrochen, und etwas in mir zerbricht, als ich ihn sehe, ich weiß nicht, was.
»Alle Farben«, sagt Mara leise.
Und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein. Zielstrebig, er scheint genau zu wissen, was er will, sein Schritt ist leicht und sein Gesichtsausdruck immer gleich, der Löwe lächelt und läuft im Schatten saftig grüner Bäume, und ab und zu bricht die Sonne durch.
Nach einer Weile begegnet der Löwe einer Schildkröte, die reglos im Moos liegt, als sei sie tot. Seine Reise sei hier zu Ende, wispert die Schildkröte, es sei denn, der Löwe erfülle seine fünfte Aufgabe.
»Und die wäre?«, fragt der Löwe.
»Nimm mich auf deinen Rücken und trage mich hundert Schritte weit«, sagt die Schildkröte, und der Löwe bückt sich und hebt die Schildkröte auf seinen Rücken. »Gut festhalten!«, sagt er noch, dann läuft er los.
»Lass mich runter, lass mich runter!«, ruft die Schildkröte nach hundert Schritten, und der Löwe beugt sich hinab und wartet, bis die Schildkröte wie tot auf ebener Erde liegt.
»Aber hier ist doch nichts«, sagt der Löwe. »Hier ist noch der gleiche Wald, in dem wir losgelaufen sind. Soll ich dich nicht woanders hinbringen?«
»Danke, Löwe, vereinbart waren hundert Schritte«, sagt die Schildkröte.
»Aber ich kann doch so schnell laufen, wollen wir nicht zusammenbleiben?«
»Hundert Schritte«, sagt die Schildkröte.
»Na dann, vielleicht sehen wir uns noch einmal«, sagt der Löwe.
Die Schildkröte nickt langsam.
»Vielen Dank, lieber Löwe, und allzeit gute Reise!«, sagt sie noch, bevor sie sich in ihren Panzer zurückzieht, und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein.
Einmal bin ich doch bei ihm gewesen. Ich habe neben ihm in seinem Zimmer gesessen und auf einen Bildschirm gestarrt. Das Spiel war einfach. Computertennis. Ich habe verbissen versucht zu gewinnen, aber ich hatte keine Chance, weil er jeden Tag üben konnte und ich noch keinen eigenen Computer hatte. Irgendwann war ich so wütend, dass ich aufgestanden und mit meinem Fahrrad nach Hause gefahren bin. Am nächsten Tag in der Schule hat er so getan, als sei am Vortag gar nichts gewesen. Er hat mir in der großen Pause den gelben Softball in die Füße gespielt und seinen Arm um mich gelegt, wenn ich ein Tor geschossen habe.
Es muss kurz vor den Herbstferien gewesen sein, kurz bevor er bei einer Bergwanderung in eine Schlucht gestürzt ist.
Wer hätte gedacht, dass wir uns wiedersehen würden?
Das Letzte, was ich von Mara weiß, ist, dass sie aufgestanden ist, um die Tür zu öffnen. Ich habe ihren Schattenriss gesehen, der sich entfernte. Ich glaube, mich zu erinnern, gehört zu haben, wie sie die Tür öffnete, aber in diesem Punkt kann ich mich täuschen.
Sicher ist, dass die Tür unseres Holzhauses offen steht, als ich dort ankomme. Lauer Wind weht herein, und ich male ein buntes Bild in meine Gedanken. »Mara?«
Ich laufe los, den Hügel hinab. Unten angekommen, wende ich mich noch einmal um und sehe das Holzhaus als Schattenriss.
Ich taste mich voran, den Steg entlang, am Rand der Insel, auf die Klippen, auf das Hotel zu, in dem Mara arbeitet. Ich gehe langsam, jeden Schritt bewusst setzend. An den Klippen brechen die Wellen, der Schattenriss des Hotels gewinnt an Größe. Ein graues Rechteck. Irgendwann stehe ich davor. Ich
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