Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
über ihr läuft Tennis im Fernseher. Weiß die Wände, braunrot der Sand auf dem Tennisplatz. Ich laufe auf Vera zu. Ich sehe an ihr vorbei auf den Bildschirm. Ein Gewinnschlag mit der Vorhand, die Zuschauer klatschen.
»Hallo«, sage ich.
Vera nickt. Ihre Augen sind klein und gerötet, sie hält eine Packung Taschentücher in der Hand.
Ich starre auf den Bildschirm über uns. Ich bohre meine Augen in den Spielstand am Rand. Vera sieht Richtung Wand.
»Sie ist wieder zu sich gekommen, mehr weiß ich noch nicht«, sagt sie.
»Sie war …«
»Sie ist vom Pferd gefallen. Auf den Kopf.«
»Ich …«
»Sie ist über ein Hindernis gesprungen, runtergefallen, auf den Kopf, und liegen geblieben.«
»Was ist denn …«
»Die Reitlehrerin hat gut reagiert. Der Krankenwagen war schnell da. Als ich ankam, lag Sandra schon im Wagen.«
»Das … tut mir …«
»Mein Auto steht noch auf dem Reiterhof. Wir können später da vorbeifahren. Ich brauche es morgen.«
»Ja, natürlich, aber …«
»Sandra ist wieder zu sich gekommen. Der Arzt hat gesagt, dass ich gleich zu ihr kann.«
Ich sehe Tennis, und dann kommt der Arzt aus Sandras Zimmer. Ich hefte mich an sein Gesicht, an seine Augen. Er sieht entspannt aus, oder bilde ich mir das ein? Er lächelt sogar. »Sie weiß noch, wie sie heißt und will möglichst bald wieder auf einem Pferd sitzen«, sagt er. Während Vera am ganzen Körper zu zittern beginnt, schüttelt er mir die Hand und sagt:
»Sie sind der Vater?«
»Ja.«
»Ist ja noch mal gut gegangen«, sagt er, und Veras Anspannung löst sich in einem Weinkrampf. Der Arzt legt ihr eine Hand auf den Rücken und sagt, dass wir jetzt reingehen könnten. »Es ist eine Gehirnerschütterung. Keine leichte, keine schwere. Sandra wird ein paar Tage hierbleiben, nur um sicherzugehen.«
»Natürlich«, sage ich.
»Sie können zu ihr«, sagt der Arzt noch einmal, nickt uns zu und geht. Vera steht auf und öffnet die Tür zu Sandras Zimmer. Sie betritt den Raum, ohne mich anzusehen. Ich stehe allein auf dem Gang. Eine Weile halte ich mich an dem braunroten Rechteck im Fernseher fest. Ein geglückter Schmetterball. Ein unerzwungener Fehler. Ein Punkt von vielen. Man braucht mindestens 48 Punkte, um ein Tennismatch zu gewinnen, 72, wenn es über drei Gewinnsätze geht. Vorausgesetzt, man gewinnt jedes Spiel, ohne ein einziges Mal über Einstand zu gehen. Das rechne ich aus, während ich den Fernseher betrachte. Dann gebe ich mir einen Ruck, wende mich um und lege eine Hand auf die Türklinke. Ich atme noch einmal durch und öffne. Sandra liegt auf einem Bett, sie spricht, ich höre ihre Stimme, ohne zu hören, was sie sagt. Vera sitzt an Sandras Bett und streichelt ihre Hand.
»Hallo Papa«, sagt Sandra.
»Hallo, mein Schatz«, sage ich.
Ich trete an das Bett heran und suche Veras Augen. Sie lächelt, ihre Wut ist der Erleichterung gewichen. »Unsere Tochter war schon immer hart im Nehmen«, sagt sie.
Ich greife nach Sandras anderer Hand. So sitzen wir eine Weile und hören Sandra zu, die uns erzählt, was passiert ist. Ihre Stimme ist ein wenig leiser als sonst, und sie spricht ein wenig langsamer. Sie sieht abwechselnd zu Vera und zu mir. Ich nicke und streichle fester ihre Hand, wenn sie mich ansieht.
»Eigentlich super. Jetzt muss ich morgen nicht die Mathearbeit mitschreiben«, sagt Sandra.
Vera lacht. »Man wird dich beneiden«, sagt sie.
»Wo warst du eigentlich, Papa?«
Eine interessante Frage.
»Mir war noch ein Termin dazwischengekommen.«
Sandra nickt und lächelt mich erschöpft an.
»Ich könnte mich ohrfeigen … Ich hatte einfach nicht mehr richtig dran gedacht … zum ersten Mal eigentlich … Ich war ja immer pünktlich da …«
»Macht doch nichts, Papa«, sagt Sandra.
Wir sitzen eine Weile schweigend, dann kommt eine Schwester mit dem Abendessen. »Haben wir schon Hunger?«, fragt sie.
Sandra schüttelt den Kopf.
»Ich stelle es mal hin. Und dann ist auch bald Schlafenszeit«, sagt die Schwester mit einem Seitenblick auf uns. Sie verlässt das Zimmer und wenig später machen wir uns auf den Weg.
Macht doch nichts, Papa. Als wir den Gang entlanglaufen, spüre ich zum ersten Mal an diesem Tag ein Brennen hinter den Augen. Wir fahren schweigend zum Reiterhof. Ich warte, bis Vera in den Wagen gestiegen ist.
Während wir nach Hause fahren, kontrolliere ich durch den Rückspiegel, ob sie hinter mir ist. Vera kennt den Weg, aber ich möchte in Veras Nähe sein. Ich möchte sie nie mehr
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