Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
verlassen. Wenn wir an Ampeln stehen, versuche ich durch den Spiegel, durch die einbrechende Dunkelheit und die Scheiben unserer Autos in ihrem Gesicht zu lesen. Ich kann nicht viel erkennen. Sie blickt müde und ernst, die Züge sind wieder verhärtet.
Es tut mir leid, Vera, ich hätte da sein sollen. Ob Vera in der Firma angerufen hat? Bei meinem Freund und Kompagnon? Dein Gatte ist schon unterwegs. Keine Ahnung, wo. Ist er noch nicht zu Hause? Ach so, er sollte Sandra vom Reiten abholen. Nein, davon hat er nichts gesagt. Wie konnte ich das überhaupt vergessen? Eigentlich habe ich das gut im Griff gehabt. Mittwoch,
19 Uhr, Sandra vom Reiten abholen. Viviana gerne, aber bitte nicht mittwochs um 19 Uhr. Nicht Mittwochabend. Es kann passieren, Termine überschneiden sich. Jeder vergisst mal was. Es ist alles gut gegangen. Macht nichts, Papa. Wir sind gleich zu Hause.
Eine Flasche mit Wasser. Eine Tablette. Es sprudelt, während sie sich auflöst.
Draußen, hinter der Glaswand meines Büros, eine Tankstelle und ein Regenbogen.
Mein Kompagnon steckt seinen Kopf durch den Türspalt und fragt, wie ich vorankomme.
»Bestens«, sage ich.
»Na dann«, sagt er.
Mein erstes Erfolgserlebnis auf einem Fußballfeld. Ein roter sandiger Hartplatz. Ich habe das neunte Tor für meine Mannschaft in einem einseitigen Spiel geschossen. Es gibt ein Foto davon. Es zeigt mich, wie ich jubelnd über den Platz renne. Der Junge, der einige Jahre später bei einer Bergwanderung in eine Schlucht stürzte und seitdem im Rollstuhl saß, war damals auch dabei, er war derjenige, der mich eingefangen hat, und ich erinnere mich jetzt sogar, was er sagte, er sagte: »Super, Mann!«
Ich steige aus dem Wagen und laufe auf den Bungalow zu, der im Dunkel liegt. Drinnen brennt Licht. Vera ist schon hineingegangen, die Tür steht offen. Sie sitzt im Wohnzimmer und weint. Im Fernseher läuft Comedy. Ich möchte zu ihr gehen und sie streicheln. Ich höre das Publikum mechanisch lachen. Ich bleibe im Dunkel stehen, am Fuß der Kellertreppe, und konzentriere mich auf den Affen aus Stoff. Ich bin ein erwachsener Mensch. Inhaber einer Firma. Ich weiß, dass ich den Affen nicht finden werde. Er könnte überall sein.
Ich gehe die Treppe hinunter in mein Arbeitszimmer, krame in einigen Schubladen, stelle mich auf einen Stuhl, um ganz oben auf einem Regal nachzusehen, aber da sind nur einige ausrangierte Tastaturen, ein alter Drucker und Staub. Es ist nicht lange her. Sandra ist an diesem Tag, dessen letzte Stunden sie im Krankenhaus verbringt, zwölf Jahre alt. Das Pferd Lupo hat sie zum neunten bekommen. Heißhunger auf Chronologie. Alles ordnen. Ich beende die Suche nach dem Affen ohne Erfolg. Oben angekommen, am Fuß der Treppe, verharre ich still, bis unter dem Frohsinn aus dem Fernseher Veras Weinen zu mir dringt. Ich putze Zähne, ziehe mich aus und lege mich ins Bett. Hoffentlich gelingt es mir, einzuschlafen, bevor Vera sich neben mich legt.
Ich sitze in unserem roten Holzhaus. Ich bin allein. Durch die geöffnete Terrassentür weht lauer Wind herein, Wellen rauschen in der Ferne. Es ist so ruhig. Alles wie zum Stillstand gekommen.
Es ist der Zeitpunkt, alles zu ordnen, allem einen Sinn zu geben. Ein Zettel und ein Stift. Ich forme die Buchstaben behutsam, damit sie lesbar sind, damit sie Worte ergeben. Ab und zu hebe ich das Blatt vor meine Augen und sehe es als Schattenriss. Im Holzhaus ist es angenehm kühl, obwohl draußen die Sonne brennt.
Meine Mutter hieß Marlies. Mein Vater hieß Hans. Beide starben vor drei Jahren innerhalb weniger Wochen. Ich war bei beiden Beerdigungen anwesend.
Vera hat mich am Abend der Beerdigung meiner Mutter lange gestreichelt. Wir haben zu dritt oben im Gästezimmer meiner Eltern gesessen, Vera, Sandra und ich. Mein Vater hatte sich schon nachmittags, gleich nach der Trauerfeier, schlafen gelegt, und auch Sandra hat geschlafen, unruhig, ab und zu hat sie im Schlaf geredet. Ich habe am Rand des Bettes gesessen, Vera hinter mir. Sie hat mich gestreichelt, meinen Rücken und meine Schultern massiert, und wir haben geschwiegen. Irgendwann in der Nacht ist Sandra aufgewacht und hat geweint. Wir haben sie getröstet, bis sie wieder einschlafen konnte.
Wenige Wochen später bin ich allein zur Beerdigung meines Vaters gefahren. Ich habe nicht noch einmal in meinem Elternhaus übernachtet, sondern bin am selben Abend zurückgefahren. Es war eine Fahrt von vier Stunden.
Ich habe meine Eltern gemocht. Mein Elternhaus
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