Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
habe ich zu einem guten Preis an ein junges Ehepaar verkauft, das damals in wenigen Monaten sein erstes Kind erwartete.
Ich bin seitdem nicht wieder dort gewesen. Das Kind des jungen Ehepaares müsste inzwischen drei Jahre alt sein.
Es gibt viele Erinnerungen, aber mir fällt keine ein.
Mit Ordnung hat das alles wenig zu tun.
Und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein. Zielstrebig, er scheint genau zu wissen, was er will, sein Schritt ist leicht und sein Gesichtsausdruck immer gleich, der Löwe lächelt und läuft im Schatten saftig grüner Bäume, und ab und zu bricht die Sonne durch, und der Himmel ist blau.
Nach einer Weile begegnet der Löwe einer Spinne, die in einem ungeheuer großen grauen Netz an einem Baumstamm hängt. Seine Reise sei hier zu Ende, erklärt die Spinne, es sei denn, der Löwe erfülle seine sechste Aufgabe.
»Und die wäre?«, fragt der Löwe.
»Siehst du das nicht? Mach mich los. Ich habe mich verfangen.«
»Du hast dich in deinem eigenen Netz verfangen?«
»Mach mich los, und setz mich an einen anderen Stamm.«
»Aber dein Netz ist riesig, das muss so viel Arbeit gewesen sein.«
»Würdest du einfach machen, was ich dir sage, Löwe?«
»Natürlich.« Der Löwe zieht und zerrt die Spinne aus dem dichten Netz, balanciert sie auf seinen Tatzen und setzt sie am nächsten Baumstamm behutsam wieder ab.
»Ich danke dir, ich fühle mich wie gerade geboren«, sagt die Spinne.
»Das freut mich«, sagt der Löwe.
»Allzeit gute Reise«, sagt die Spinne, bevor sie beginnt, ein neues Netz zu knüpfen, und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein.
17
Lauer Wind weht herein. Ich habe begonnen, auf Maras Rückkehr zu warten, und die Ebenen beginnen sich zu überschneiden. Ich sitze in Maras rotem Holzhaus und denke an Vera.
Vera hat mich gestreichelt am Tag der Beerdigung meiner Mutter. Ich habe ihr angesehen, dass sie müde war, aber sie ist mit mir wach geblieben.
Von Zeit zu Zeit dröhnt der altersschwache Motor der Fähre herüber.
Die Grundfarben sind Gelb, Rot und Grau. Vera trug an dem Abend, an dem ich das Gefühl hatte, mich in sie zu verlieben, ein hellgraues Sommerkleid. Eine Studentenparty im Sommer. Die Sonne scheint. Bands spielen. Eine Theatergruppe zeigt Sketche. Chemiker lassen dies und das explodieren. Vera zaubert.
Sie holt mich auf die Bühne. Sie bittet mich, mir von 32 Karten eine zu merken, die Karten zu mischen und in die Luft zu werfen. Ich merke mir den Karokönig und werfe die Karten. Vera zieht hinter ihrem Rücken einen Degen hervor und sticht zu. Ich spüre den scharfen Luftzug.
Ich starre auf Veras graues Kleid und nehme den Karokönig von der Klinge des Degens. Ich suche ihre Augen und finde zum ersten Mal ihr uneingeschränktes Lächeln. Vera bedankt sich für meine Mithilfe. Ich verlasse die Bühne. Vera hebt 31 Karten vom Boden auf, verbeugt sich und geht, begleitet von Applaus.
Draußen, auf den grünen Hügel und auf das Dach des roten Holzhauses, höre ich inzwischen wieder feinen Regen fallen.
Ein Lied, das lange vergessen war. Eine Reise in einem blauen Bus. Wir sitzen an einem Lagerfeuer am Strand. Ich erzähle eine wirre Geschichte. Das Mädchen, das mir gefällt, ist eingeschlafen. Ich renne ins Wasser. Einer meiner Freunde taucht neben mir auf und singt das Lied, das lange vergessen war. Sternenklarer Himmel. Das Mädchen, das wieder aufgewacht ist, stimmt ein. Ich schwimme zurück ans Ufer, das Mädchen reicht mir ihre Weinflasche. Ich nehme einen tiefen Schluck und spüre ihre Augen auf mir ruhen, als ich ihr die Flasche zurückgebe. Meine Freunde sitzen wieder am Lagerfeuer. Das Mädchen löst den Blick von meinem Gesicht und deutet auf etwas über der dunklen Wasserfläche.
»Schau!«, sagt sie.
»Was?«, frage ich und blicke in die Richtung, in die sie zeigt.
»Sturm kommt auf«, sagt das Mädchen, und während ich darüber nachdenke, ob ich in diesem Moment sie ansehe oder die Wasserfläche, versickert die Erinnerung.
Die Beerdigung meiner Mutter. Vera, Sandra und ich im Gästezimmer. Draußen liegt der Garten meiner Eltern in Nebel. Die Grundfarben sind Grau und Blassgrün. Ich habe Kopfschmerzen.
Vera lacht, nachdem sie die Karte aus der Luft geholt hat, die ich mir merken sollte.
Das alte Auto meines Vaters hat ein junger Mechaniker gekauft.
Ab und zu hebe ich das Blatt vor meine Augen und sehe es als Schattenriss. Was weiß ich, ob das lesbar ist.
Vera sitzt vielleicht
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