SchattenTod | Ein Weserbergland-Krimi
Möglicherweise war er auch gestört worden. Die Frau am Pranger der Petzer Kirche war mit einem Faden wieder zugenäht worden, allerdings nur am Bauch. Zum ersten Mal fand sich eine Gebärmutter zu Füßen der Toten, die nicht ihr selbst gehörte. Aber die Inszenierung erschien lieblos, fast schlampig.
Auf dem Jetenburger Friedhof hatte sich der Mörder mehr Mühe gegeben. Wie eine Meerjungfrau lag die schöne Blonde damals drapiert auf dem großen Grabstein, der mit einer blauen Decke und Blüten verziert worden war. Auch hier war ihr ein fremdes Fortpflanzungsorgan zu Füßen gelegt worden.
Was er jedoch in der Stadtkirche inszeniert hatte, stellte alles Bisherige in den Schatten. Eine Frau, getötet wie die anderen, aber an das Portal der Orgel genagelt, und das auch noch an Karfreitag, das war der Gipfel. Zur Schau gestellt wie Jesus am Kreuz, zu Füßen bedacht mit einem Symbol der Dreieinigkeit aus ineinander verschlungenen Fortpflanzungsorganen.
Es schien, als habe er alles gegeben, als sei dies sein Meisterstück. Vielleicht würde er nun aufhören und seine Spur sich verlieren.
Eines war Wolf Hetzer heute klar geworden an diesem kühlen kirchlichen Feiertag: Der Mörder musste eine Affinität zum christlichen Glauben haben. Und er musste die Gelegenheit gehabt haben, sich einen Schlüssel der Stadtkirche zu besorgen oder nachmachen zu lassen. Es gab keine Einbruchsspuren.
Der Eklat
Am Karfreitagmorgen beschloss Rieke, ihr in der Nacht gefasstes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das Frühstück war ein günstiger Zeitpunkt, weil Lena und Felix noch schliefen.
Es war ein Morgen wie immer. Das jedenfalls war er noch, als Frank und Rieke bei dampfendem Kaffee am Frühstückstisch saßen. Ein Morgen voller verdrängter Erinnerungen, Hoffnungen und Sehnsüchte. Rieke saß in einem Kokon, der Geborgenheit hätte sein sollen. Nach nichts anderem hatte sich ihre Seele ausgestreckt. Doch sie hatte erkennen müssen, dass die von Frank um sie gesponnenen Fäden nicht aus Seide waren.
Es waren Stricke, die sie immer mehr einengten, ein listig gewobenes Konstrukt, das um sie gelegt worden war, damit sie nicht ausbrach aus einer Beziehung, die er schon vor Jahren zerstört hatte in einem einzigen Moment.
Sie musste ausbrechen aus diesem Kokon, um endlich fliegen zu können, um frei zu werden für die Liebe, die sie in Leanders Augen gesehen hatte.
In ihrer Bademanteltasche trug sie den kleinen Zettel, den sie an ihrer Windschutzscheibe fast übersehen hätte, als sie aus der Kirche gekommen war. Leander musste unbemerkt von allen für einen kurzen Moment von hinten aus der Sakristei gegangen sein, um ihn an ihrem Wagen zu befestigen.
Inzwischen war er schon leicht feucht in ihrer Hand geworden, aber sie hielt sich daran fest. Seine Worte hatten ihr das Werkzeug in die Hand gegeben, das Gewebe des Kokons endlich zu zerschneiden. Es war das Gefühl, das aus ihnen sprach. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie, dass sie wirklich geliebt wurde. Das Perfide an diesem Umstand war, dass sie erst jetzt, da sie dies so intensiv fühlte, wusste, dass es vorher noch nie der Fall gewesen sein konnte. Nicht bei dem Vater ihrer Kinder, nicht bei Frank Habichthorst. In Leanders Augen hatte sie das gesehen, was jetzt aus diesen winzigen, schnell geschriebenen Worten in ihr Herz gedrungen war: Selbstlose, bedingungslose Liebe – ein Geschenk, das Rieke kaum zu begreifen imstande war.
Auf dem Zettel stand: „Ja, ich liebe dich auch schon so lange! Lass uns neue Wege gehen. Morgen möchte ich dich gerne treffen. Dann planen wir unsere Zukunft. Kommst du um achtzehn Uhr zum Schießstand am Harrl? Voller Hoffnung, dein Leander“. Dann hatte er noch seine Mobilfunknummer daruntergeschrieben.
Rieke seufzte. Es war eine ganz besondere Nachricht, die sie in die Zukunft träumen ließ.
„Hast du irgendwas?“, fragte Frank Habichthorst mit Blick auf die entrückt blickende Frau ihm gegenüber.
„Ja“, entgegnete Rieke, „habe ich. Ich sehe keinen Sinn mehr in einer Verbindung zwischen dir und mir. Du weißt, dass wir schon seit Wochen und Monaten immer wieder auf dieses selbe Thema kommen. Heute Nacht habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich werde mich von dir trennen!“
„Aha, diesen Entschluss fasst du jetzt einfach ganz allein, so mir nichts dir nichts am Ostersamstagmorgen und knallst ihn mir vor den Kopf?“ Frank war entrüstet.
„Ja, denn es ist meine Entscheidung, auch wenn sie ein paar Jahre zu spät kommt.
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