Schattentraeumer - Roman
entgegen – es versprach, ein herrliches Festmahl zu werden!
Praxi und Maria traten schweigend aus der Küche, um den langen Tisch zu decken. Dhespina rollte mit den Augen, als sie an
ihnen vorbeilief, um die Kinder vom Spielen einzusammeln. Normalerweise aßen sie bei solchen Gelegenheiten im Garten, aber
der Himmel kündigte Regen an.
»Kommt rein, Kinder!«, rief Dhespina aus dem Hauseingang. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass ihr jüngster Enkel an den Zaun
gefesselt war.
»Elpida, hilf dem Jungen, sich loszubinden«, befahl sie. Träge glitt ihre Enkelin von der Schaukel und befolgte die Anordnung.
Dhespina versetzte den älteren Söhnen von Christakis einen Klaps auf den Hinterkopf, als sie sich ins Haus drängelten.
»Wo ist Niki?«
»Rennt die Straße rauf und runter, wie immer«, antwortete Elpida, und Dhespina ging los, um sie zu suchen. An der Häuserecke
angelangt, stieß sie beinahe mit ihrer Nichte zusammen. Niki joggte auf der Stelle, wobei ihre blonden Haare wie Schnüre um
ihr hübsches Gesicht tanzten, und fragte Dhespina, weshalb Elpidas Vater in seinem Wagen saß und weinte.
»Wovon redest du?«, wollte Dhespina wissen.
Niki deutete auf die Straße, die ins Dorf führte. Dann schoss sie an ihrer Tante vorbei ins Haus.
Yiannis hatte seinen Kopf in den Händen vergraben und sah sie nicht kommen. Auch als Dhespina sanft die Tür öffnete und sich
zu ihm setzte, schaute er kaum auf. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Dhespina kramte in der Tasche ihres Kleides nach einem
sauberen Taschentuch und reichte es ihm. Zu ihrer Bestürzung schnäuzte Yiannis hinein und gab es ihr zurück.
»Es ist vorbei«, schniefte er, als sie das anstößige Stück Stoff mit spitzen Fingern entgegennahm.
»Was ist vorbei?«, fragte sie, überrascht, dass er Bescheid wusste, und in Furcht vor seiner Antwort, da sie selbst nicht
ganz unschuldig am Niedergang des Jungen war.
»Mein Leben!«, rief er, worauf ein neuer Schwall Tränen folgte. Dhespina gab ihm das Taschentuch zurück.
»Na komm, Yiannis, niemand will dir weh tun …«
»Was wissen Sie denn schon?«, unterbrach er sie ärgerlich, und Dhespina zuckte zusammen. »Sie haben keine Ahnung, was ich
durchmache. Niemand von euch weiß das. Und Sie! Sie sitzen in Ihrem schönen Haus, inmitten Ihrer großen, starken Jungs, mit
einem Ehemann, der Sie liebt, und Menschen, die gern bei Ihnen sind. Woher wollen Sie also wissen, wie es mir geht?«
Dhespina schwieg. Was sollte sie auch schon sagen? Yiannis’ Schmerz mitanzusehen war schwer zu ertragen. Letztlich war er
ja auch nur ein unglücklicher Mann, der sich in die falsche Frau verliebt hatte. Er war kein schlechter Mensch. Er hatte es
nicht verdient, das Osterfest allein und weinend in diesem Auto zu verbringen.
»Ich liebe ihn«, schniefte Yiannis.
»Ich bin sicher, auf ihre eigene Weise liebt sie dich auch«, log Dhespina.
Yiannis sah sie verwirrt an. »Nicht sie. Ihn! Praxi liebe ich nicht. Ich liebe Victor.«
Die Welt um sie herum schien den Atem anzuhalten ob der Ungeheuerlichkeit von Yiannis’ Geständnis. Dhespina wusste nicht,
was sie erwidern sollte.
»Ich habe Ihnen einen Schock versetzt«, stellte Yiannis treffend fest.
»Nun ja, das hast du wohl …«, gab Dhespina zu. Plötzlich betrachtete sie Yiannis mit neuen Augen. Er sah nicht aus wie ein
Homosexueller – allerdings war sie auch noch nie zuvor einem anderen begegnet. Sie musterte ihn, seinen dicken Hals und seine
schlichte Kleidung, und war merkwürdig enttäuscht, da sie sich einen Homosexuellen etwas extravaganter vorgestellt hatte.
Nun, da er sich offenbart hatte, ergab es durchaus Sinn: das Fehlen von Kindern in seiner Ehe und die Duldsamkeit, die er
all die Jahre an den Tag gelegt hatte, in denen seineFrau im selben Dorf wohnte wie ihre Jugendliebe. Es musste für den Jungen eine schreckliche und unbeschreiblich einsame Zeit
gewesen sein.
»Erzähl mir von diesem Victor«, flüsterte sie, und da Yiannis sich so lange schon danach sehnte, von ihm zu erzählen, tat
er es auch.
Er schüttete Dhespina sein Herz aus, mit ehrlichen Worten und ohne Scham, und zu ihrer eigenen Überraschung brachte Dhespina
es fertig, über die Sünde seines Geständnisses hinwegzusehen. Yiannis war ein junger Mann, ebenso alt wie Michalakis, und
er war homosexuell. Ein Homosexueller, der sitzengelassen worden war.
»Ach, Yiannis … Es ist schwer, nicht den Mut zu verlieren, wenn einem das Herz
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