Schattentraeumer - Roman
gebrochen wurde. Aber du musst die Stärke finden.
Du musst weitermachen und es hinter dir lassen.«
»So wie Ihr Loukis?«, höhnte Yiannis. Als er Dhespinas betrübtes Gesicht sah, bereute er seine Schroffheit sofort. »Tut mit
leid«, sagte er leise. »Das war unangebracht … Wissen Sie, lange Zeit habe ich Ihren Sohn gehasst, und dann habe ich ihn gefürchtet.
Allmählich beginne ich, ihn zu verstehen. Nicht, dass ich Loukis deswegen mögen würde, das habe ich nie getan, aber irgendwie
respektiere ich ihn. Er hat die Frau, die er liebt, niemals gehen lassen – auch wenn diese Frau nun einmal mit mir verheiratet
war. Wenn ich sie selbst jemals geliebt hätte, würde ich mich jetzt vielleicht nicht so mit Ihnen unterhalten. Doch ich habe
Praxi nie geliebt. Allein der Gedanke, sie anzufassen, ist mir zuwider. Und ich bin es leid, so zu tun, als wäre es anders,
und von den Leuten für einen Idioten gehalten zu werden. Wir alle haben den größten Teil unseres Lebens damit zugebracht,
einander anzulügen. Und hat das auch nur einen von uns glücklich gemacht? Wissen Sie, ich würde Praxi liebend gern gehen lassen.
Es kümmert mich nicht weiter, ob sie den Rest ihres Lebens mit Loukis verbringt. Wirklich nicht. Aber wir leben nicht in Amerika.
Hier kann man sich nicht einfachscheiden lassen. Und außerdem ist da ja auch noch meine Tochter …«
Yiannis hielt inne, und Dhespina sah die Frage in seinen Augen. Sie verzog keine Miene, doch ihr Gewissen plagte sie schrecklich,
als sie die Dankbarkeit in seinem Gesicht las.
»… meine Tochter ist das Wichtigste in meinem Leben«, fuhr er fort. »Sie ist alles, was ich habe.«
»Und deshalb reißt du sie von hier fort und nimmst sie mit nach Griechenland.«
»Das wollte ich«, korrigierte Yiannis. »Aber ich bin einem Traum hinterhergejagt, und dieser Traum wollte mich nicht. Also
ist mein Leben hier, bei meiner Tochter.«
Dhespina wusste nichts zu erwidern. Doch zum ersten Mal seit Wochen spürte sie Erleichterung von einem erdrückenden Gewicht.
»Komm«, sagte sie schließlich und klopfte sich auf die Oberschenkel, um ihrer Entschlossenheit Ausdruck zu verleihen. »Iss
mit uns. Es ist Ostern – die richtige Zeit, um die Vergangenheit ruhen zu lassen und Streit zu begraben. Yiannis, mein Sohn,
wir alle müssen nach vorn blicken. Und wenn ich dir dabei irgendwie helfen kann, dann werde ich es tun.«
Yiannis griff nur allzu gern nach dem Ast, den Dhespina ihm hinhielt. Lammfromm stieg er aus dem Auto und folgte ihr. Er war
geradezu ausgehungert, und weder sein Magen noch sein gebrochenes Herz ließen Raum für durchdachtes Handeln. Aus diesem Grund
traf ihn das Meer aus verblüfften Gesichtern, dem er sich gegenübersah, als er das Haus der Economidous betrat, völlig unvorbereitet.
Barmherzig durchbrach Elpidas Freudenschrei die schwere Stille. Als er das Kind hoch in die Luft hob, spürte er, wie die Last
der Welt von seinen Schultern fiel, und zum ersten Mal seit seiner Abreise aus Athen huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
»Gütiger Gott!«, schrie Herr Televantos. »Was zur Hölle ist mit Ihrem Mund passiert?«
20
Eine letzte Runde vor der Hochzeit hatte sie in die Perle von Keryneia gelockt, doch als sie den weißen Bikini erblickten,
zogen die Brüder zur Hafenmauer um. Sie stellten ihre Stühle in einer Reihe auf, ein Päckchen Zigaretten ging von Hand zu
Hand, dann ließen sie ihre Gläser klirrend aneinanderschlagen und setzten sich, um das Schauspiel zu beobachten. Die Frau
bemerkte, dass sie ihr zusahen – wie hätte sie es auch nicht bemerken sollen? Da saßen vier ungewöhnlich große, ausnehmend
gutaussehende Männer, herausgeputzt mit dunklen Anzügen, gebügelten Hemden, polierten Schuhen und zurückgegelten Haaren. Sie
zog ihren Bauch ein und sprang elegant ins Wasser. Die Brüder zogen anerkennend die Augenbrauen hoch.
Von hinten kam Angelis angerannt.
»Mamma sagt, dass du nach Hause kommen sollst. Wir sind schon spät dran, und sie wird sauer.«
Christakis schnappte sich seinen ältesten Sohn und zog ihn auf seinen Schoß. »Deine Mamma ist ganz sicher auch der Ansicht,
dass Bildung über alles geht. Also setz dich und lerne.«
Da der Junge in einem Alter war, in dem Männergeheimnisse deutlich interessanter waren als ein Raum voller Frauen, tat er
anstandslos, was sein Vater ihm sagte. »Was sehen wir uns an?«
»Die Frau«, antwortete Loukis und deutete träge auf die
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