Schattentraeumer - Roman
seine Braut auf die Bühne traten. Angeführt von den Eltern
des glücklichen Paares, reihten sich die Gäste auf, um Geldscheine an Marias wunderschönes Kleid zu heften, wobei sie sich
je nach Höhe der gespendeten Summe mehr oder weniger in Szene setzten.
Nachdem Kyriakos der Braut sein eigenes großzügiges Geschenk angesteckt hatte, schüttelte er Michalakis die Hand und flüsterte
ihm ins Ohr: »Ich habe noch ein Geschenk für dich: Der Erzbischof gestattet deiner Zeitung Anfang nächsten Monats ein Interview.
Ruf mich an, wenn du dich von den ehelichen Strapazen erholt hast, und wir machen einen Termin aus.«
Michalakis fehlten die Worte. Mitgerissen von der Ausgelassenheit des Tages küsste er Kyriakos rau auf beide Wangen und wirbelte
seine Frau übermütig durch die Luft. Die Menge klatschte aufmunternd Beifall. Angesteckt von der Freude auf dem Gesicht ihres
Sohnes und den Klängen der
bouzouki
, kehrten Georgios und Dhespina Arm in Arm auf die Bühne zurück. Ein Paar nach dem anderen tat es ihnen nach, und die jungen
Männer baten die zunächst theatralisch ablehnenden Mädchen, sich mit ihnen dazuzugesellen. Nach und nach formte sich ein großer
Kreis für den traditionellen
syrtos.
Als die Musik schneller wurde, steckte Christakis sich seine Zigarette zwischen die Zähne, riss sein Hemd auf und begab sich
in die Mittedes Kreises. Michalakis, Marios und Savvas folgten ihm. Angeheizt vom Rufen und Klatschen der anderen Tänzer traten sie mit
ausgestreckten Armen und schnipsenden Fingern um den lautesten Applaus der ohnehin schon begeisterten Menge an. Loukis, Praxi
und Yiannis waren an ihren Plätzen geblieben und fielen unter den übrigen Zuschauern im Greisenalter deutlich auf.
Nach den skandalösen Enthüllungen des Osterfestes hatten die drei ein unausgesprochenes Abkommen getroffen, nach dem Praxi
und Elpida ihre Nächte wieder bei Elena und ihre Tage in Keryneia verbrachten. Seit seiner Rückkehr aus Griechenland besaß
Yiannis keine Motivation mehr, seine Frau für all ihre Fehler zu hassen. Sie hatte ihm vieles angetan – doch das Herz hatte
sie ihm nie gebrochen. Praxi wiederum betrachtete ihren Ehemann nun in einem neuen Licht und war sogar imstande, Mitgefühl
für ihn aufzubringen. Sie hatte immer geglaubt, sie allein sei diejenige, die in der Falle saß, dabei musste sich Yiannis
hinter den Gittern ihrer Lügen und seiner Sexualität viel stärker eingesperrt fühlen als sie alle zusammen.
»Er tut mir eigentlich leid«, erklärte sie Loukis. »Was hältst du von alledem?«
»Was ich davon halte?«, erwiderte Loukis, der an all die Nächte dachte, die Yiannis in den Armen seines griechischen Offiziers
verbracht hatte, während er in seinem Haus fast wahnsinnig vor Sehnsucht geworden war. »Von mir aus darf er ruhig noch ein
paar Mal auf die Nase fallen.«
Obwohl die Situation für keinen von ihnen auch nur ansatzweise befriedigend war, wollten sie doch nicht die einzige Heimat
verlassen, die sie je gekannt hatten. Daher hatten sie eine Art Waffenstillstand vereinbart, einen würdevollen Kompromiss,
der die Liebe von zweien und den gegenseitigen Respekt von dreien ermöglichte und für Elena und den Rest der Gesellschaft
den Anschein von Konformität wahrte. Ihre Übereinkunft ging jedoch nicht so weit, dass sie nun mit der fröhlichen Ausgelassenheit
der anderen Gäste die Tanzfläche betreten konnten, daher klatschten sie mit den Rentnern im Takt undhofften, die anderen Gäste würden es gnädigerweise unkommentiert lassen.
Elpida hob den Löffel und ließ ihn wieder sinken. Ihre Haarwurzeln schmerzten von
yiayias
grober Behandlung, und ihr Kopf fühlte sich unendlich schwer an. Sie legte ihre Wange auf den Tisch und schloss die Augen.
»Beeil dich, du kommst zu spät zur Schule«, schimpfte Praxi.
Elpida streckte sich und gähnte affektiert. »Ich glaube, ich werde heute nicht in die Schule gehen.«
»Bist du krank?«, fragte Elena und legte dem Kind die Hand auf die Stirn.
»Nein, mir geht’s gut.«
»Warum glaubst du dann, dass du nicht in die Schule gehen wirst?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Weil es überflüssig ist«, antwortete Elpida.
»Wie bitte?«
»Jason geht auch nicht zur Schule, und er ist der intelligenteste Mensch, den ich jemals getroffen habe.«
»Du bist erst zehn Jahre alt, Elpida. Du hast in deinem Leben noch gar nicht genug Menschen kennengelernt, um so eine Aussage
treffen zu können.«
»Mamma,
Weitere Kostenlose Bücher