Schattentraeumer - Roman
die Schule ist kein Ort des Lernens, sondern ein Ort der stumpfen Wiederholung.«
»Ich nehme mal an, das hat Jason dir erzählt, nicht wahr?«
Elpida antwortete nicht. Sie wusste, wann ihre Mutter versuchte, sie zu überlisten.
»Wovon redet sie?«, fragte Elena ihre Tochter.
»Elpida will heute nicht in die Schule gehen, weil Jason auch nicht in die Schule geht.«
»Der britische Junge?«
»Ja.«
»Ist er etwa einer von diesen Schulabbrechern?«, fragte Elena. »In den Nachrichten im Fernsehen haben sie etwas darüber gebracht.
Hoppies nennen diese Leute sich.«
»Hippies«, verbesserte Praxi sie.
»Hippies, Hoppies. Das ist alles Teufelszeug, mit den langen Haaren und der freien Liebe.«
»Was ist freie Liebe?«
»Elpida! Ich sage es dir nicht noch einmal: Geh hoch und mach dich fertig für die Schule, oder ich versohle dir den Hintern.«
»Oh, ehrlich, du bist so was von … bourgeois!« Das Kind rannte vom Tisch weg, bevor die Hand ihrer Mutter sie erreichen konnte.
»Was, zur Hölle, ist denn bourgeois?«, fragte Elena. Praxi gab keine Antwort, einerseits, weil sie Wut in sich aufsteigen
fühlte, doch vor allem, weil sie es selbst nicht ganz genau wusste.
»Daran sind die Schulen schuld«, fuhr Elena fort. »Zu meiner Zeit haben wir etwas über unsere Mutter Griechenland und über
unseren Vater, den lieben Gott, gelernt. Heute geht es um The Mamas and the Papas und Uncle Sam.«
»Woher kennst du denn diese Sachen?«, fragte Praxi ungläubig.
»Das habe ich doch gesagt, aus dem Fernsehen. Aber ich sehe natürlich nur wegen Erzbischof Makarios fern, möge Gott ihn schützen
und Unheil von ihm abwenden.«
»Natürlich siehst du nur deswegen fern, Mamma. Natürlich.«
Michalakis wurde in einen kargen Raum geführt, in dem sich außer einem Stuhl mit Goldrand hinter einem robusten Holzschreibtisch
keinerlei präsidiale Insignien befanden. Er rieb sich eben seine vor Aufregung feuchten Hände an seiner Hose trocken, als
Erzbischof Makarios den Raum betrat, gefolgt von einem kleinen Mann, der einen unglaublich hohen Papierstapel vor sich her
trug. Michalakis trat vor, um dem Erzbischof den Handrücken zu küssen. Zu seiner Überraschung antwortete dieser darauf, indem
er ihm zu seiner Hochzeit gratulierte. Auf solche Nettigkeiten nicht vorbereitet, gab Michalakis zunächst unzusammenhängende
und kaum verständliche Worte des Dankesvon sich, um sich dann unaufgefordert in kleinsten Details seiner Feier zu ergießen. Der Erzbischof lächelte geduldig und
bat Michalakis schließlich, Platz zu nehmen, da die Zeit leider dränge und er noch andere Pflichten zu erfüllen habe. Mit
seiner nun folgenden ausgiebigen Entschuldigung vergeudete Michalakis, wie er sehr wohl erkannte, nur noch mehr der kostbaren
Zeit, die ihm zugestanden wurde.
Es war nicht das erste Mal, dass Michalakis Makarios zu Gesicht bekam: Er hatte mehrere politische Versammlungen in Lefkosia
besucht und zugesehen, wie der Präsident sich seinen Weg durch die Ruinen des Konflikts zwischen den beiden Gemeinschaften
bahnte, und einmal hatte ihn seine schwarze Soutane gestreift, als sie in einem Korridor des Ministeriums aneinander vorbeiliefen.
Dennoch überkam ihn in der intimen Atmosphäre dieses Raumes ein Gefühl der Ehrfurcht, das von jahrelanger Konditionierung
herrührte. Der Erzbischof war der politische und geistliche Führer des Landes. Er war Staatsmann und Vaterfigur zugleich.
Trotzdem war Michalakis verblüfft über die Präsenz des Mannes. Hinter seinem graugesprenkelten Bart ahnte man ein verschmitztes
Lächeln, und die dunklen Augen mit den schweren Lidern sprühten vor Klugheit. Unter seinem zylinderförmigen
kalmafi -Hut
strahlte der Präsident Würde und Selbstvertrauen aus – was er sich auch leisten konnte, da er vier Monate zuvor mit sechsundneunzig
Prozent der Stimmen wiedergewählt worden war.
»Hat es Sie überrascht, dass die Enosis-Front bei den Wahlen so schlecht abgeschnitten hat?«, fragte Michalakis.
Makarios ließ sich genug Zeit für eine gründliche Abwägung, bevor er mit einem klaren Nein antwortete.
»Die Menschen verstehen heute, dass die Republik als untrennbarer, einheitlicher Staat geschützt werden muss. Wir haben die
Aufgabe, mit friedlichen Mitteln Lösungen für unsere konstitutionellen Probleme zu finden, die der türkisch-zyprischen Gemeinschaft
Sicherheit bieten und zugleich eine effektive Regierung ermöglichen, die auf demokratischen
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