Schattentraeumer - Roman
deliziösen Übergriff auf meine Speicheldrüsen entgehen lassen«, entgegnete der
Junge.
Es war bereits später Abend, als Stelios seinen Teller leergegessen und die Gastfreundschaft ausreichend strapaziert hatte.
Aus der Nachmittagsbrise war ein regelrechter Sturm geworden, und mit hochgeschlagenem Kragen machte er sich auf den Heimweg.
Heulend zog der Wind über die Berge hinweg in die Hauptstadt, wo er die Überreste des Tages durch die nächtliche Luft peitschte.
An den alten Türen der Selimiye-Moschee, der früheren Sophien-Kathedrale, flatterte ein weggeworfenes Flugblatt gegen das
Holz. Unter der Überschrift »Bekanntgabe Nr. 1« verkündete der Zettel die Gründung der
Türk Mukavemet Teşkilatı
und rief alle türkischen Zyprer dazu auf, »sich für Anweisungen bereitzuhalten«.
7
Bewaffnet mit Stöcken, Ziegel- und Pflastersteinen sowie selbstgebastelten Brandbomben zog der wütende Mob durch Lefkosia.
Fensterscheiben wurden eingeschmissen, Geschäfte in Brand gesteckt, Familien in Angst und Schrecken versetzt. Zwei Nächte
tobte die Gewalt, dann wurden Barrieren aus Stacheldraht errichtet, um die beiden Sektoren voneinander abzutrennen.
Als Michalakis tags darauf durch die Stadtteile lief, bot sich ihm ein Bild des Jammers: Glas knirschte unter seinen Schuhsohlen,
eingeschlagene Schaufensterscheiben gaben den Blick in ausgebrannte, rußgeschwärzte Geschäfte frei, Eingänge waren von Urin
und Kot verpestet, zwei Laster lagen wie zusammengetretene riesige Tiere umgekippt auf der Straße.
Als sich der neue Gouverneur einen Überblick über die angerichteten Schäden verschaffte, hatte man das Glas bereits zusammengefegt
und die Fenster zugenagelt. Sir Hugh Foot sprach sowohl mit griechischen als auch mit türkischen Ladenbesitzern, die mehr
oder weniger das Gleiche berichteten – lediglich die Schuldfrage beantworteten sie unterschiedlich: Die Griechen hatten im
türkischen Viertel gewütet, die Türken das griechische gestürmt.
Drei Tage nach dem Gouverneursbesuch endete die zwölfte Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einer Abstimmung,
in der sich einunddreißig Mitgliedsstaaten dafür aussprachen, Zypern unverzüglich das Recht auf Selbstbestimmung einzuräumen.
Dreiundzwanzig Staaten stimmten gegen diese griechische Lösung, vierundzwanzig enthielten sich ihrer Stimme. Die Abstimmung
kam folglich zu keinem Ergebnis – die Insel blieb weiter unter britischer Kolonialherrschaft,die einen forderten
enosis
, während die anderen
taksim
verlangten. Es hatte sich nichts geändert. Die Welt hatte die Lage überdacht und sich dann abgewandt.
»Meine Güte, Marios, ist das schön!« Praxi hielt das Mobile hoch und schaute sich die Holzfiguren genauer an.
»Erkennst du sie?«, wollte Marios wissen. Er hatte fast einen ganzen Monat an Elpidas Weihnachtsgeschenk gearbeitet. Die Idee
war ihm an Nicos’ Grab gekommen, wo er fast immer die besten Einfälle hatte.
»Also«, riskierte Praxi einen Tipp, »das hier sieht aus wie ein Löwe …«
»Ja, genau!«, rief Marios freudestrahlend und nahm Praxi das Mobile aus der Hand. »Der Löwe ist Christakis, denn er ist der
Anführer, und er hat gelbes Haar.«
»Ja, stimmt«, sagte Praxi und lächelte. Die Beschreibung war bestechend.
»Und das hier ist eine Eule, sie stellt Michalakis dar, denn er ist klug wie eine Eule und liest immer Bücher. Und hier, der
Engel, das ist Nicos, weil er tot ist und im Himmel. Das Schaf, na ja, das bin ich, weil Nicos immer gesagt hat, dass ich
ihm wie eins hinterherlaufe. Und der Wolf ist Loukis, denn als solcher wurde er geboren. Jetzt muss Elpida nachts nie Angst
haben, denn sie hat fünf Brüder, die auf sie aufpassen – in diesem Leben und im nächsten.«
Marios legte das Mobile auf den Tisch und blickte Praxi stolz an. Die junge Mutter konnte ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten,
sie brach in Tränen aus und drückte Marios fest an sich. Es war nicht gerade die Reaktion, die er erwartet hatte, doch als
Praxi die Umarmung löste und er das Lächeln auf ihrem Gesicht sah, entspannte er sich wieder.
Da Marios nicht in der Lage war, Verstand und Gefühl voneinander zu trennen, fand er, dass Frauen sich oft äußerst befremdlich
verhielten: Wenn sie böse waren, taten sie so, als seien sie es nicht, und wenn sie glücklich waren, weinten sie wie Babys.Erst neulich Abend hatten sie im Radio die Freilassung von über hundert Gefangenen verkündet,
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