Schattentraeumer - Roman
allsehende Sonnengott Helios hörten ihre Hilfeschreie. Völlig verzweifelt wanderte ihre Mutter umher und suchte
nach ihr, bis Helios ihr schließlich verriet, was passiert war. Demeter wurde daraufhin so wütend, dass sie alle Pflanzen
auf der Erde am Wachsen hinderte, was Zeus schließlich dazu zwang, Hades aufzutragen, er solle Persephone wieder freilassen.
Widerwillig gab Hades nach, schenkte Persephone vor ihrer Rückkehr aber noch einen Granatapfel. Als sie später nur einen einzigen
Kern davon aß, war sie fortan auf ewig an die Unterwelt gebunden und musste ein Drittel des Jahres dort verbringen. Die anderen
Monate lebte sie bei ihrer Mutter. Während der Zeit, die Persephone jedes Jahr im Schattenreich verbrachte, verweigerte Demeter
allen Pflanzen das Wachstum, und so kam es zum Winter.«
»Wie hübsch«, bemerkte Loukis ironisch, »und so schön tragisch.«
»Ganz das wahre Leben, was?« Toulla seufzte. Ihr lockiges Haar steckte unter einer dicken Mütze, ihr Gesicht war starr vor
Kälte.
»Ich weiß, ich sollte so was nicht sagen, aber ich hab allmählich genug von dem ganzen Quatsch«, brummte sie und vergrub die
Hände noch ein Stückchen tiefer in ihren Manteltaschen. »Dieser ewige Kampf … Ganz ehrlich, ich hasse es. Als ich mich damals
dazu entschlossen habe, mein Leben unserer Befreiung zu widmen, hab ich nicht im Traum daran gedacht, dass es so lange dauern
würde. Ist dir klar, dass wir inzwischen das vierte Jahr kämpfen? Ich meine, wie lange soll das noch soweitergehen? Ich hab die Nase wirklich gestrichen voll. Ein Ende unseres Kampfes ist nicht in Sicht, und in der Zwischenzeit
werde ich eine alte Jungfer!«
Loukis sah Toulla an. Er hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Achtzehn? Vielleicht neunzehn? Auf alle Fälle alt genug, um
verheiratet zu sein und zwei Kinder im Arm zu tragen.
»Du bist keine alte Jungfer«, versicherte ihr Loukis. »Du bist eine schöne junge Frau, die vor Leben nur so sprüht.«
»Aber weder schön noch sprühend genug für dich, oder?« Toulla versuchte zu lachen, doch der Schmerz, der in ihrer Frage lag,
war nicht zu überhören. »Hat Stelios dir erzählt, dass er mir einen Antrag gemacht hat?«, fragte sie plötzlich.
»Nein«, erwiderte Loukis. Deshalb war sein Freund so aufgekratzt gewesen, als er sich eben von ihm verabschiedet hatte. Loukis
hatte angenommen, dass es mit dem reparierten Zeitzünder zu tun hatte, an dem er schon den ganzen Tag herumfummelte. »Und
was hast du ihm geantwortet? Wirst du ihn heiraten?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab ihm gesagt, dass ich darüber nachdenken werde.«
»Liebst du ihn?«
»Was ist Liebe?«, fragte sie zurück.
Loukis wusste genau, was Liebe war und wie sie sich anfühlte. Umso trauriger fand er Toullas Antwort. Stelios war ein guter
Mensch, und er verdiente eine Frau, die ihn aufrichtig liebte, nicht eine, die seinen Antrag nur deshalb annahm, weil er die
zweitbeste Wahl bei einer begrenzten Auswahl an Alternativen war.
»O nein!«, rief Toulla, blieb mitten auf dem Weg stehen und klopfte ihre Taschen ab. »Ich hab meinen Geldbeutel im Versteck
vergessen.«
»Ach, macht nichts, dann gehen wir eben noch mal zurück. Ohne wird es schwierig, Vorräte zu beschaffen.«
»Nein, nein. Du wartest hier«, entschied sie. »Ich renne schnell allein zurück. Ich bin gleich wieder da.«
Loukis zuckte mit den Schultern, und während Toulla den Hügel hinaufhastete und zwischen den Bäumen verschwand, lehnte er
sich gegen eine kleine, kaputte Mauer. Es war ein bitterkalter Tag, trotzdem hatte er sich geradezu darum gerissen, der klaustrophobischen
Enge des Verstecks zu entkommen. Bevor er gegangen war, hatte ihn Antoniou gewarnt, Toulla nicht den ganzen Weg bis ins Dorf
zu begleiten, und er hatte versprochen, sich daran zu halten. Aber wenigstens auf diesem kleinen Stück ihres gemeinsamen Weges
wollte er ein paar wärmende Sonnenstrahlen abbekommen. Er betrachtete seine Füße, der Schneematsch hatte seinen Schuhen schwer
zugesetzt. Zerstreut griff er nach einem Stock, um in den Klumpen herumzustochern, die an seinen Sohlen hafteten. Plötzlich
zerriss ein gewaltiger Knall die Stille. Loukis ließ vor Schreck den Stock fallen.
Mit rasendem Herzen rannte er den Hügel hinauf in die Richtung, aus der der Knall gekommen war. Immer wieder kam er auf dem
feuchten Boden ins Rutschen und Straucheln. Flüsternd betete er zu einem Gott, an den er eigentlich gar nicht glaubte.
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