Schattentraeumer - Roman
sein Schweigen brechen sollte, hart bestraft werden wird – in diesem und
im nächsten Leben!«
Der Mann machte eine kunstvolle Pause. Mehmet suchte Blickkontakt zu den Gläubigen neben ihm, die jedoch alle starr und konzentriert
nach vorn auf den Fremden blickten.
»Brüder«, fuhr der Kämpfer fort, »ich bitte euch nun, dem Beispiel eures Hodscha zu folgen.«
Der Imam trat vor, küsste den Koran und begann mit lauter, klarer Stimme zu sprechen: »Ich schwöre bei Allah und auf den Heiligen
Koran, dass ich alles, was ich heute sehe und höre, mit in mein Grab nehmen werde. Ich bin mir bewusst, dass ich mit meinem
Leben bezahlen werde, sollte ich diesen Schwur brechen, und ich akzeptiere diese Strafe.«
Langsam wurde der Koran weitergereicht, und bestürzt sah Mehmet zu, wie Jungen, die eigentlich noch Kinder waren, unter den
stolzen Blicken ihrer Väter und Großväter die Worte erwachsener Männer wiederholten. Auch Mehmet legte den Schwur mit bebenden
Lippen ab. Bei dem Gedanken an das Geheimnis, das er gleich hören und für sich würde behalten müssen, schauderte ihm.
Als der Koran schließlich wieder an den Kämpfer übergeben wurde, blickte dieser zufrieden in die Runde und sprach dann weiter.
»Brüder, diese Insel steht kurz davor, in die Klauen der Griechen zu geraten. Eure griechischen Nachbarn stört es, dass wir
rechtmäßiger Teil der Regierung dieser Republik sind, und ichsage euch, sie werden ihren Traum von
enosis
in die Wirklichkeit umsetzen, koste es, was es wolle – und wenn sie dafür unser Volk vernichten müssen.« Er ließ seine Worte
wirken und seinen Blick über die Anwesenden wandern. Mehmet fühlte sich wie ein Prüfling und errötete. »Ja«, sagte er dann,
als könnte er die Gedanken einiger Männer lesen, »ich weiß, dass ihr noch einmal Glück hattet und dass in euren Dörfer kein
Blut vergossen wurde, so wie in anderen Teilen der Insel. Aber wurden nicht etliche von euch gezwungen, ihre Weinberge oder
Gärten an Griechen abzutreten? Musstet ihr nicht mitansehen, wie eure Kinder eingeschüchtert, eure Tiere vergiftet und eure
Esel erschossen wurden? Ach Brüder! Wenn das alles wäre, was die Griechen uns antun, müssten wir einfach nur Allah für sein
Erbarmen danken. Aber ich sage euch, so wahr ich hier stehe, dass es Pläne gibt, die das, was wir bislang erdulden mussten,
geradezu paradiesisch erscheinen lassen. Laut Informationen, die wir aus der Hauptstadt haben, plant die EOKA, wieder zu den
Waffen zu greifen, um die Insel mit Gewalt an sich zu reißen und an Griechenland zu übergeben. Und solltet ihr diesen Tag
erleben – könnt ihr euch vorstellen, was das für euer aller Leben bedeutet? Ihr wäret aus der Regierung verbannt, würdet mit
eiserner Faust von Athen zum Schweigen gebracht und zu Bauern degradiert werden – ihr, die ihr rechtmäßige Könige seid! Ich
sage euch, es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese blutrünstigen Bestien über eure Dörfer herfallen werden. Darum müsst
ihr jetzt handeln. Von heute an müsst ihr wachsam sein, und ich bitte euch, eure Brüder zu unterstützen, wenn sie sich in
den nächsten Tagen an euch wenden.«
Als er geendet hatte, erhob sich leises Gemurmel in der Moschee.
»Er hat recht mit dem, was er sagt«, sagte ein älterer Mann zu niemand Bestimmtem. »Letzte Woche hat sich der Busfahrer geweigert,
meiner Frau die Bustür zu öffnen, obwohl sie in Keryneia an der Haltestelle stand und dort ganz offensichtlich gewartet hat.
Was für ein Mensch lässt seinen Hass an einer altenFrau aus, frage ich euch? Ein Grieche, natürlich. Ein verdammter Grieche!«
Als Mehmet die Moschee verließ, musste er an Aphrodite und das Entsetzen in ihren starren, leblosen Augen denken. Und an die
Feindseligkeit, mit der ihm inzwischen immer häufiger auf dem Markt begegnet wurde. Es lag eindeutig etwas in der Luft. Würde
es sich im Guten wieder auflösen? Über ihm kündigte ein Donnergrollen den ersten Herbststurm an. Mehmet fröstelte, jedoch
nicht vor Kälte, sondern vor Furcht.
Sie erwachte beim ersten krachenden Donnerschlag.
Aufgewühlt von ihren wirren Träumen, befühlte Praxi das schweißnasse Laken, in dem sie sich bis eben hin und her gewälzt hatte
und das sich nun ganz kalt auf ihrer Haut anfühlte. Ihr Kopf hämmerte in einem anderen Rhythmus als ihr Herz, und sie hatte
das Gefühl, dass der Wind sie nach draußen zog. Sie verließ das Zimmer und stieg die
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