Schattentraeumer - Roman
Prostituierten, man rief die Polizei hinzu. Die Situation eskalierte, plötzlich fielen in der wütenden Menschenmenge
Schüsse, und die Feindseligkeiten, die drei Jahre lang geruht hatten, brachen explosionsartig wieder aus.
Sechs Menschen kamen bei den Kämpfen in der Hauptstadt allein in den ersten beiden Tagen ums Leben, und als die griechisch-zyprischenStreitkräfte begannen mobilzumachen, verließen türkische Zyprer ihre Posten in der Polizei. Am dritten Tag zählte man bereits
siebzehn türkische und elf griechische Tote. Inzwischen wurde auch in Larnaka, Ammochostos, Lemesos, Pafos und Keryneia gekämpft.
Privatarmeen wurden mit Granatwerfern, Pistolen, Maschinengewehren und gepanzerten Planierraupen ausgerüstet, Telefonleitungen
in muslimische Gebiete gekappt und ganze Dörfer von der jeweils anderen Seite als Geiseln genommen. Die Ausschreitungen gerieten
immer weiter außer Kontrolle, und zu Weihnachten läuteten die Kirchenglocken gegen den Lärm türkischer Düsenflugzeuge an.
Als es schließlich hieß, drei Truppentransporter seien in zyprische Hoheitsgewässer eingedrungen, brach endgültig Panik unter
den Inselbewohnern aus. Präsident Makarios ordnete daraufhin einen Waffenstillstand an, und die Briten entsandten Truppen,
die für Ruhe zwischen den verfeindeten Lagern sorgen sollten. Tags darauf wurden die Geiseln ausgetauscht, doch der entstandene
Schaden war nicht wiedergutzumachen. Eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Gemeinschaften erwies sich fortan als unmöglich.
Die türkischen Zyprer zogen sich aus der Regierung zurück und sollten nie wieder dorthin zurückkehren.
Während die Lage weiterhin angespannt blieb, schloss sich Michalakis einer Gruppe ausländischer Journalisten an, die eingeladen
worden war, sich in einem der Vororte von Lefkosia einen Eindruck von den Zerstörungen zu verschaffen. In Kumsal wurden sie
in ein Haus geführt, dessen Boden von Glasscherben übersät war. In einem der Zimmer lag ein Kinderfahrrad in der Ecke, in
einem anderen der Körper einer Frau, ihr Kopf war von einer Kugel zerfetzt. Einer der Reporter, ein Brite, stammelte entsetzt
irgendetwas Unverständliches; als die Gruppe weiter zum Badezimmer zog, verschlug es schließlich allen die Sprache: In einer
blutroten Badewanne lagen übereinandergestapelt drei tote Kinder auf ihrer ermordeten Mutter. Die fassungslosen Journalisten
erfuhren, dass das Hauseinem türkischen Major gehörte. Die Körper waren alles, was von der Familie des Mannes – und einer Nachbarin, die sich zur
falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatte – noch übrig war.
Als sie das Haus wieder verließen, entschuldigte sich Michalakis und entfernte sich von der Gruppe. Er lief um die nächste
Ecke und erbrach sich. Den Anblick des Grauens, der sich ihm soeben geboten hatte, würde er für den Rest seines Lebens nicht
mehr vergessen; jeder Bericht, den er von diesem Tag an hörte, würde die furchtbaren Bilder wieder heraufbeschwören. Das Massaker
rief in ihm nicht nur einen namenlosen Abscheu gegenüber der Grausamkeit hervor, zu der Menschen fähig waren, sondern auch
Unverständnis: Warum hatte man die Toten wie Ausstellungsstücke liegen lassen – fünf Tage nach ihrer Ermordung?
»Zeig mir das Tier, das mehr Gesichter hat als ein Türke!«
Victor schleuderte seine Jacke auf einen Hocker und griff nach dem Brandy, der hinter der Theke stand. Yiannis nahm zwei Gläser
von der Spüle, ging die Tür abschließen und setzte sich dann an den Tisch vor dem Kamin. Die Lichter im Café hatte er bereits
gelöscht, und die Kerzen waren bis auf den Docht abgebrannt.
Während sich Victor einen Stuhl heranzog, tanzten die Schatten des Feuers auf seinem Gesicht. Yiannis war wie hypnotisiert
von dem Anblick: Der junge Offizier hatte die stolze Nase eines echten Griechen, sie machte sein markantes, schönes Gesicht
perfekt.
»Schweren Tag gehabt?«, fragte er und hielt ihm eine Zigarette hin.
»Gibt’s denn andere?«, entgegnete Victor und tippte gegen den Verband an seinem Unterarm – ein Souvenir aus einem der Gefechte
der vergangenen Tage. Während die Kämpfe in der Hauptstadt tobten, waren die türkischen Soldaten aus ihren Kasernen ausgerückt,
um die Passstraße zwischen Keryneia undLefkosia unter ihre Kontrolle zu bringen. Angeführt von Victor und seinen griechischen Offizierskollegen hatten die griechischen
Zyprer erbittert gekämpft, um das Ruder herumzureißen,
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