Schattentraeumer - Roman
Außentreppe hinunter.
Die Pflastersteine fühlten sich hart, aber angenehm unter ihren Füßen an. Der Wind ließ das Wasser hoch an die Hafenmauer
schlagen und zerwühlte ihre Haare. Es fielen die ersten Regentropfen, doch Praxi bekam von all dem nichts mit. Unempfänglich
für die Kälte jagte sie dem Wind nach, der sie aus den beleuchteten Straßen hinaus in die Dunkelheit führte. Aus dem glatten
Pflasterstein wurde spitzer Kies, der ihr in die Fußsohlen stach, das Nachthemd klebte ihr nun nass an den Beinen. Sie begann
zu rennen, fest entschlossen, dem Leben zu entfliehen, das hinter ihr lag.
Obwohl sie keinen Plan gefasst hatte, wusste Praxi vom ersten Moment an, wohin sie unterwegs war. Über ihr grollte der Donner
ihr Mut zu, die Blitze wiesen ihr den Weg. Die Kraft der Elemente trieb sie immer weiter.
Als das kleine Haus vor ihr auftauchte und sie das Licht einer Kerze im Fenster flackern sah, verlangsamte sie ihren Schritt.
Die Scheibe war beschlagen, sie konnte seinen Atem darauf spüren. Sie hatte sein Haus nie betreten, doch in Gedanken warsie schon Tausende Male durch diese Räume gegangen, in denen sie zusammen leben sollten.
Zentimeterweise schob sich Praxi auf das Licht zu. Sie hatte die Hand noch nicht zum Klopfen erhoben, als die Tür aufschwang
und sich ihre Blicke trafen. Hinter ihm knöpfte sich Maria gerade ihren Mantel zu.
»Loukis …«
»Was in Gottes Namen …?«
Loukis betrachtete das winzige Geschöpf, das vor ihm stand. Sie war bis auf die Knochen durchnässt, und ihre nackten Beine
waren schlammbespritzt und zerkratzt. Maria trat an seine Seite, Schreck und Wut zeichneten hässliche Furchen in ihr hübsches
Gesicht.
»Mach die Tür zu!«, befahl sie und wollte Loukis wegziehen, doch er wich vor ihrer Berührung zurück und griff nach Praxis
Händen, um sie aus der Kälte zu holen.
»Ich musste dich sehen«, flüsterte sie.
»Mach die Tür zu!«, kreischte Maria. Loukis sah sie kurz an, dann schloss er die Tür – von außen.
Praxi stand dicht vor ihm. Er zog sie an sich, spürte, wie sie zitterte. Ihr Atem ging schwer und stoßweise.
»Wir müssen dich nach Hause bringen«, sagte er, woraufhin sich Praxi von ihm losriss und ihre Hände fest um sein Gesicht schloss.
Sie funkelte ihn an, vergeblich versuchte Loukis, ihrem Blick auszuweichen.
»Versprich mir!«, verlangte sie. »Schwöre auf alles, was je zwischen uns war, dass du mich niemals betrügen wirst!«
»Praxi, hör auf …«
»Du kannst Maria nicht heiraten! Denn wenn du es tust, kannst du mir ebenso gut eine Waffe an den Kopf halten und abdrücken,
denn es wird mich umbringen. Versprich es mir, Loukis! Versprich mir, dass du sie nicht heiraten wirst!«
Loukis sank auf die Knie.
»Wie kannst du das von mir verlangen?«, fragte er flehend.
»Weil du zu mir gehörst!«, schrie Praxi. »Du hast immer zumir gehört, und ich schwöre bei meinem Leben, dass ich dich niemals freigeben werde. Niemals! Nicht bevor wir beide unter
der Erde liegen und die Welt aufgehört hat, sich zu drehen! Deshalb verlange ich es von dir, Loukis! Deshalb verlange ich
es von dir!«
Mit diesen Worten brach sie ohnmächtig vor ihm zusammen.
12
Wenn Michalakis im Rückblick über die folgenden Ereignisse nachdachte, ließ er sich gern zu der Aussage hinreißen, dass der
Anfang vom Ende mit dem Streit um einen Damenschlüpfer eingeläutet worden war.
Im November 1963 stellte Makarios seinen 13-Punkte-Plan zur Verfassungsänderung vor, der unter anderem vorsah, das Vetorecht
des Vizepräsidenten sowie die getrennten Gemeindeverwaltungen abzuschaffen. Der Erzbischof präsentierte seinen Änderungskatalog
als ernsthaften Versuch, sämtliche Hindernisse zu beseitigen, die den Verwaltungsapparat lähmten und für Zwistigkeiten sorgten.
Es gelang ihm jedoch nicht, über sein eigentliches Ziel hinwegzutäuschen: die machtpolitische Stärkung der griechischen Mehrheit.
Im Dezember wies die Türkei Makarios’ Änderungspläne zurück, woraufhin die Insel binnen weniger Tage wieder in den gezogenen
Lauf eines Gewehrs blicken musste: Am Denkmal eines EOKA-Kämpfers explodierte eine Bombe. Griechische Zyprer riefen zu den
Waffen, die muslimischen Kämpfer der Untergrundorganisation TMT brachten Geschütze auf den Dächern von Moscheen in Stellung,
und ganze Stadtteile wurden abgesperrt. Am 16. Dezember kam es dann im türkischen Bezirk von Lefkosia zu einer Auseinandersetzung
wegen einer
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