Schattenturm
Giulio.
»Großartig. Er lebt sich gut ein.«
»Bis er in ein paar Monaten wieder aus der neuen Umgebung herausgerissen wird und nach Hause zurückmuss.«
Joe schaute seinen Vater an. »Vielleicht liegt das in seinen Genen.« Er wandte sich Pam zu. »Ich habe meine Kindheit in Brooklyn verbracht. Als Dad seinen Job in Louisiana antrat, ist die ganze Familie umgezogen. Nach der Scheidung bin ich mit meiner Mutter wieder nach Brooklyn zurück. Als Vater die Wohnung und später das Haus hier gekauft hat, habe ich abwechselnd in Brooklyn und in Rye gewohnt. Später habe ich ein paar Jahre die Louisiana State University besucht und bin dann nach New York zurückgekehrt. Tja, jetzt lebe ich in Irland, wie ihr wisst.«
»Wow«, staunte Pam. »Du bist ja ganz schön herumgekommen. Und du hast dieselbe Universität besucht wie dein Vater? Das wusste ich noch gar nicht.«
»Ich war nur kurze Zeit an der Uni«, erwiderte Joe.
Giulio räusperte sich, sagte aber nichts dazu.
Nach dem Essen setzten sie sich ins Wohnzimmer, das mit dicken Teppichen ausgelegt war. Das schönste Möbel war ein prächtiges weiß und goldenes Gobelinsofa, und vor den Fenstern hingen schwere Samtvorhänge – Annas schlimmster Albtraum.
»Freut ihr euch auf die Hochzeit?«, fragte Joe.
Giulio und Pam wechselten einen Blick.
»Wir haben schon geheiratet«, gestand Giulio. »In Las Vegas. Am Wochenende.«
»In Las Vegas. Aha.«
»Ich weiß«, sagte Pam. »Es hört sich protzig an. Aber es war wunderschön.«
»Das ist wirklich toll, Dad. Ich war noch nie zu einer Hochzeit eingeladen, bei der Braut und Bräutigam geheiratet hatten, noch ehe ich bei ihnen war. Das ist ein starkes Stück. Wirklich ein besonderer Tag für uns alle.«
»Nun, jetzt lässt es sich nicht mehr ändern. Ich bin froh, dass du gekommen bist, Joe.«
»Schön für dich. Gute Nacht.«
Joe stellte sein Glas auf den Tisch und ging in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Als er später hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters ins Schloss fiel, stand er auf, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Mit dem Becher in der Hand durchquerte er die Eingangshalle, betrat das Arbeitszimmer seines Vaters und ließ den Blick über die Bücher schweifen, zum größten Teil entomologische Fachliteratur.
Joe war gerade vier Jahre alt gewesen, als Giulio an der Cornell University mit dem Studium begonnen hatte. Er war damals siebenundzwanzig gewesen und hatte drei Jobs und einen Bank-Manager verschlissen, um sein Studium der Entomologie zu finanzieren. Er war der einzige Vater in der Gegend gewesen, der das Wochenende zu Hause verbrachte, um zu studieren. Bei diesem Gedanken war Joe trotz allem stolz auf seinen Dad.
Die anderen Bücher hatten mit Giulios Fachgebiet zu tun. Die Titel waren Joe vertraut; schließlich hatte sein Vater die Bücher verfasst: Todeszeitpunkt und Identifikation. Entomologie und Tod. Handbuch zur forensischen Entomologie. Der Nutzen von Arthropoden bei polizeilichen Ermittlungen sowie Das Ermitteln des Todeszeitpunkts . Ein Regalbrett nach dem anderen war mit Büchern über Insekten und forensische Studien gefüllt. Neben einem umgekippten Bücherstapel entdeckte Joe das marineblaue Cover und die vergilbten Seiten eines dicken Manuskripts. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Er nahm das Manuskript in die Hand und wischte über das Cover.
Entomologie und Todeszeitpunkt: ein praktischer Ratgeber.
Drei Namen standen auf dem Manuskript, darunter sein eigener. Die Arbeit stammte aus dem Jahre 1982. Joe war damals neunzehn gewesen und hatte seit zwei Jahren die Highschool besucht. Dank der Freundschaft seines Vaters mit Jem Barmoix, Professor für medizinische Entomologie, war Joe gebeten worden, einem Team beizutreten, das an einem bahnbrechenden Forschungsprojekt arbeitete.
»Bereust du es?«, fragte Giulio, der plötzlich in der Tür stand. Joe zuckte zusammen.
»Nein, Dad. Ich weiß, was die Forschung bedeutet. Aber statt den ganzen Tag durch ein Mikroskop zu blinzeln, habe ich beschlossen, einer der Buschen zu werden, die ihren Kopf riskieren, um die Scheißkerle zu schnappen, die andere Menschen töten. Mörder, die Leichen hinterlassen. Gäbe es sie nicht, wärst du arbeitslos. Keine Leichen, keine Zersetzung und keine Bestimmung des Todeszeitpunkts auf entomologischer Basis.«
»Hast du dich nicht vom Polizeidienst freistellen lassen, Joseph? Anna sagte mir, du arbeitest jetzt als Zimmermann. Wie
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