Schattenwandler 02. Gideon
sich mit Kane unter dem Vorwand zurückgezogen, dass er nach Isabella und nach Corrine sehen müsse, aber er hatte gewusst, dass Legna mit Noah gern einen Moment allein sein wollte. Legna wusste, dass Noah froh war, dass sie noch dablieb, und auch wenn sie ihn nicht gern aus der Ruhe bringen wollte, musste sie doch unbedingt mit ihm über etwas sprechen.
„Noah?“
„Ja?“
Noah blickte sie an und hielt inne bei dem, was er tat.
„Ich habe mich erinnert.“
Verständnislos runzelte Noah die Stirn. Doch als er den ernsten Gesichtsausdruck seiner Schwester sah und die düstere Ruhe in ihren Augen, ahnte er auf einmal, wovon sie redete. Vor Anspannung hätte er beinahe laut aufgelacht. Auf diesen Moment hatte er zweieinhalb Jahrhunderte gewartet, und er hatte es sich fast genau so vorgestellt, bis hin zum Wortlaut: „Ich habe mich erinnert.“ Und doch hatte sie ihn jetzt überrascht.
Noah setzte sich in den Stuhl neben sie und versank so tief darin, als wäre die Erdanziehungskraft für ihn größer geworden. Legna sah ihn an und wartete, während er sich sammelte und versuchte, einen mentalen Schutz aufzubauen, doch damit hatte er wenig Erfolg, weil seine Gefühle schon zu aufgewühlt waren. Das überraschte sie nicht. Noahs ganzes Element war ausgesprochen flüchtig. Und es war nur seiner Macht zu verdanken, dass es ihn nicht öfter übermannte.
„Du brauchst mir nicht mehr in allen Einzelheiten zu erklären, was passiert ist. Das hat Gideon schon übernommen. Aber ich dachte, dass du es wissen solltest“, sagte sie.
„Ich habe gefühlt, dass das geschehen würde.“ Noah streckte die Hand aus und rieb einen unsichtbaren Fleck auf dem Tisch weg. „Ich nehme an, du denkst, ich hätte es dir früher sagen sollen, oder?“
„Ja“, stimmte sie zu. „Aber ich verstehe auch, warum du es nicht getan hast.“
„Es tut mir leid, Legna. Ich hatte gehofft, dass du dich nie an diesen Tag erinnern musst. Ic h … ich war entsetzt, als ich erkannte, was sich zwischen dir und Gideon anbahnt. Ich wusste, dass ein Kraftaustausch von diesem Ausmaß alle möglichen Türen aufstoßen würde.“
„Ich weiß. Und als sie dann offen standen, habe ich auch verstanden, warum Hannah und du euch deswegen so gewunden habt. Ich muss sagen, ich bin froh, dass es nicht Gideon ist, gegen den du etwas hast.“
„Nein“, erklärte Noah. „Es war nicht Gideon. Es war nur deswegen, weil sein Einfluss diese Erinnerungen wieder wachrufen könnte. Ich hoffe, er ist bei dir gewesen, als es passiert ist.“
„Zum Glück.“ Legna schwieg einen Moment und suchte den aufgewühlten Blick ihres Bruders. „Du musst mir versprechen, dass du aufhörst, mich zu beschützen. Es wird dir nie ganz gelingen, und du reibst dich auf dabei. Und wenn ich als deine Botschafterin zur Königin der Lykanthropen gehe, musst du mich immer über alles auf dem Laufenden halten. Es wäre dumm, mir irgendetwas vorzuenthalten.“
„Dann ziehst du das Angebot in Erwägung?“
„Ja. Aber ich muss es erst noch mit Gideon besprechen. Sag mir, Noah, warum hast du für diese Aufgabe an mich gedacht?“
„Weil ich dir vertraue. Deine Loyalität und deine Offenheit sind genau das, was ich suche. Du weißt, du bist meine beste Diplomatin. Und ich kann nicht jemanden schicken, der die Voraussetzungen weniger gut erfüllt.“
„Auch dabei musst du mir vertrauen, Noah. Es ist nicht mehr deine Aufgabe, mich zu beschützen.“
„Ich fürchte, das kann ich mir nie ganz abgewöhnen“, erwiderte er. „Trotzdem werde ich es versuchen.“ Er schenkte ihr ein mattes Lächeln. „Ich hoffe, dass du dich eines Tages an die Zeit erinnern wirst, als Mama noch am Leben war und uns beide geliebt hat. Dass sind sehr schöne Erinnerungen.“
„Es wird sich lohnen, auch diese letzte schlimme Erinnerung zu durchleben, wenn die anderen so gut sind, wie ich hoffe.“ Legna nahm ihre Füße vom Tisch und wandte sich ihm zu. „Und jetzt möchte ich dich bitten, etwas für mich zu tun.“
„Alles, kleine Schwester.“
„Ich möchte, dass du mit Gideon sprichst. Ja, er sieht durch meine Augen, und ja, er ist ziemlich immun gegen das emotionale Gefasel von verwirrten Brüdern und Schwestern.“ Sie lächelte, während sie hinter ihn trat und die Arme um ihn legte. „Aber er hat etwas Besseres verdient als das, was du und Hannah ihm in der letzten Wochen geboten habt. Egal, was die anderen denken, ich glaube, es ist wichtig für ihn, dass er eine Familie bekommt, und ich
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