Schattenwandler 02. Gideon
hatte immer sehr viel Sorgfalt darauf verwendet, wie sie sich kleidete. Ihr Stil war unverwechselbar, immer weiblich und zu ihrer angeborenen Anmut passend. Trotzdem musste sie heute noch größere Mühe auf ihre äußere Erscheinung verwenden. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, warum, und sie musste laut lachen, während sie sich vor dem Spiegel drehte, um den Fall des schweren Satinrocks zu betrachten. Das Kleid war wie eine griechische Toga über einer Schulter gerafft und fiel dann von der Taille abwärts in roten Falten, die mit silbernen Fäden durchwirkt waren und die sie an Gideons Augen erinnerten.
Sie errötete leicht, als sie sich im Spiegel betrachtete, denn ihr fiel ein, dass er sie auch in diesem Augenblick durch ihre Augen sah.
„Du könntest mich zumindest warnen“, bemerkte sie laut und warf ihrem Spiegelbild einen Blick mit gehobenen Brauen zu.
Und mich selbst dieser Seite von dir berauben? Fällt mir nicht im Traum ein.
Legna lächelte und trat näher vor den Spiegel.
Sie schnappte nach Luft, während sie sich aus der Nähe betrachtete. Erschrocken fuhr sie sich mit der Hand an die Wange.
„Meine Augen!“, rief sie.
Meine Augen , erwiderte er.
Er hätte es nicht klarer aussprechen können. Es war seine quecksilberfarbene Iris, die auf einmal zum Teil ihres Spiegelbilds geworden war und ihr eigenes Graugrün verdrängt hatte. Sie seufzte ergeben, und da sie annahm, dass sie wohl nichts dagegen tun konnte, würde sie sich daran gewöhnen müssen.
„Ich nehme nicht an, dass du plötzlich mit kaffeebraunem Haar hier auftauchst“, meinte sie hoffnungsvoll.
Nein, Süße, das ist nicht sehr wahrscheinlich.
„Das ist ziemlich unfair!“, rief sie übetrieben gereizt. „Ein Austausch hat schon immer bedeutet, dass Dinge gegeneinander ausgetauscht werden. Bis jetzt sehe ich aber nur dich in mir, aber nichts von mir in dir. Wie selbstherrlich. Das ist wieder mal typisch für dich.“
Er antwortete nicht, nur ein leises Lachen glitt durch ihre Gedanken. Seltsam, aber ihr fiel auf, dass sie ihn zuvor kaum jemals hatte lachen hören. Sie war überrascht, wie angenehm es klang. Er war immer so ernst gewesen, s o …
Kontrolliert.
„Würdest du es bitte unterlassen, meine persönlichen Gedanken zu überarbeiten“, schimpfte sie.
Gideon antwortete mit Schweigen. Sie warf ihr langes Haar über die Schulter und schwebte aus dem Raum. Schnell lief sie die weiße Marmortreppe hinab, die in die große Halle führte. Die Schleppe ihres Kleids bauschte sich hinter ihr. Sie flog über die letzten Stufen und lief Noah fast um in ihrer Hast. Ihr Bruder packte sie um die Taille und zog sie neben sich, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor und stürzte.
„Noah!“, rief sie atemlos und stützte sich mit den Händen an seinem Arm ab. „Es tut mir leid, ich habe dich gar nicht gesehen.“
„So viel ist klar“, frotzelte er, und sie küssten sich zur Begrüßung auf die Wange. „Du scheinst es eilig zu haben. Haben wir verschlafen?“
„Ic h … nehme es an, ja.“ Legna senkte die Augen und wich seinem Blick aus, während sie ihn losließ, um an ihren ohnehin perfekt sitzenden Röcken herumzunesteln.
Plötzlich hob Noah den Kopf, und seine hochempfindlichen Sinne sprühten Funken wie ein Feuerstein.
„Was ist los?“, fragte Legna.
„Ich bi n … “ Er zögerte einen Moment. „Ich bin nicht sicher. Ich hatte ein ganz seltsames Gefüh l … als wenn Gideon hier wäre.“
Legna konnte nicht anders, sie musste den Kopf abwenden, um die verräterische Röte zu verbergen, die auf einmal ihr Gesicht überzog. Die Bewegung erregte Noahs Aufmerksamkeit, und er sah seine jüngste Schwester aus schmalen Augen an.
„Legna? Ist Gideon hier?“
„Nicht das ich wüsste. Ich bin gerade aufgewacht, schon vergessen? Ich muss weiter.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn schnell und eilte wie der Blitz zum Haupteingang.
Doch sie kam nicht weit, eine Wand aus Hitze, gerade so heiß, als wenn sie so etwas wie einen Sonnenbrand bekäme, erhob sich vor dem Portal. Legna schrie verwirrt auf. Die Hände in die Hüften gestemmt, drehte sie sich zu ihrem Bruder um.
„Okay, was soll das? Stubenarrest?“
„Wenn du es so nennen willst“, meinte Noah nachdenklich und kam langsam auf seine Schwester zu, um sie genauer mustern zu können. „Was ist hier los, Legna? Ich habe das komische Gefühl, dass du irgendetwas Lächerliches im Schilde führst, wovon ich nichts weiß.
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