Schattenwandler 04. Damien
Schattenwandlern.
Der Hauptgang war so groß, dass in der Mitte des roten Läufers eine Reihe von Tischen hineinpasste, während die Bücher auf beiden Seiten leicht zugänglich in den Wandregalen standen. Jemand hatte bereits mehrere Petroleumleuchten und Öllampen angezündet und sie in ausreichendem Abstand aufgestellt. Fackeln, die an verschiedenen Stellen von der Wand in den Raum ragten, waren ebenfalls angezündet worden und brannten hell. Fast zu hell. Syreena spürte die Hitze in ihren Augen.
Bis hierhin hatte sie die Bibliothek bereits gesehen. Als sie sie zum ersten Mal besucht hatten, hatten sie sich mit anderen Dingen herumschlagen müssen und sie nicht erforschen können. Anya, die Generalin der königlichen Elitegarde, war als Einzige zurückgegangen und hatte alles untersucht, als Sicherheitsmaßnahme für den Fall, dass noch Fallen und dergleichen aufgestellt waren.
Zwei Mönche und ein Dämon waren bereits im Raum. Syreena war überzeugt davon, dass sich noch mehr in den Bereichen des Saals befanden, die man nicht einsehen konnte. Sie nahm an, dass sie gerade irgendwo anfingen und sich die ersten Bücher geholt hatten. Soweit sie wusste, konnte niemand die Zeichen lesen, die in die Wand oberhalb der Regale eingemeißelt waren und die zweifelsohne Symbole für die Archivierung darstellten.
Wahrscheinlich mussten sie einen Bibliothekar ernennen, dachte sie. Jemanden, der das Projekt koordinierte und die Arbeit überwachte. Jemanden, der die Bände zählte und der dafür verantwortlich war, dass sie vollständig blieben. Jemanden, der sich um die notwendigen Reparaturen in der Höhle kümmerte, damit das Wasser nicht durchsickern konnte und noch mehr Bände vernichtete, als es ohnehin schon zerstört hatte.
Doch auch wenn die Schattenwandler sich darauf einigen könnten, die Ergebnisse auszutauschen, würde sie ihr Geld verwetten, dass sie es nicht schafften, sich über die Aufteilung der Bibliothek zu einigen. Trotzdem würde sie Siena den Vorschlag unterbreiten. Die Bibliothek befand sich schließlich auf ihrem Territorium. Wenn sie jemanden ernannten, ohne überhaupt zu fragen, ob sie das durften, würde es als die Regel akzeptiert und fraglos hingenommen werden.
Syreenas Überlegungen wurden unterbrochen, als eine Schattenwandlerin, die sie nicht gleich erkannte, ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie war klein, kaum größer als einen Meter fünfzig, und obwohl sie ziemlich hübsch war, machte sie einen sehr unsicheren Eindruck. Sie schlich an den Regalen entlang, als wollte sie die Tatsache ausblenden, dass noch jemand anders da war.
Sie war kein Dämon. Dämonen waren in der Regel groß und gebräunt und auf eine robuste Art hübsch, und auch wenn dieses kleine Ding sehr schön war, sah es doch zart und beinahe zerbrechlich aus. Es war weder eine Lykanthropin noch ein Vampir. Lykanthropen konnten ihre Brüder stets spüren, und Vampire hatten keine nennenswerte Zirkulation. Zumindest nicht mehr ab einem bestimmten Alter. Syreenas Sinne nahmen deutlich einen schnellen, schwachen Herzschlag und einen kraftvollen Blutkreislauf wahr.
Wer außer ihnen dreien würde noch Nachforschungen anstellen in der Schattenwandlerbibliothek?
Schließlich betrat Syreena den Raum und ging direkt auf die Fremde zu. Diese bemerkte es sofort, und ein Blick, den Syreena nicht anders als panisch nennen konnte, schien ihr fein geschnittenes Gesicht zu überziehen. Sie wich zurück und presste sich gegen das Bücherregal, als die Prinzessin auf sie zutrat.
Jetzt begriff Syreena, was sie war.
„Hallo! Ich bin Syreena“, begrüßte sie das verschreckte Mädchen freundlich und streckte ihm die Hand entgegen. „Du bist eine Mistral, nicht wahr?“
Syreena war in ihrem Leben nur einmal einer Mistral begegnet. Und sie war verblüfft, nun eine weitere zu treffen. Mistrals lebten äußerst zurückgezogen. Sie gingen nur untereinander Verbindungen ein, und selbst dann kamen sie außerhalb ihrer kleinen Dörfer selten zusammen. Sie waren fremdenfeindlich, fürchteten Menschenansammlungen, und vor allem fürchteten sie diejenigen, die Macht besaßen.
Die junge Mistral nickte bestätigend. Sie würde nicht sprechen, die Prinzessin wusste das. Weibliche Mistrals wurden aus gutem Grund auch als Sirenen bezeichnet. Schon der Klang ihrer Stimme war zauberhaft und stürzte jeden, der sie hörte, in tiefe Verwirrung. Es war ein guter Abwehrmechanismus. Ja, mehr als das. Wie das geheimnisvolle Klappern einer giftigen Schlange
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