Schattenwandler 05. Noah
Seite zu sein, das ist kein einfaches Leben, Corrine. Es ist gefahrvoll für sie – vor allem nach dem, was vor Kurzem passiert ist. Sie würde eine Zielscheibe sein. Natürlich würde sie von den meisten akzeptiert werden, aber diejenigen, die sie nicht akzeptieren, können in ihrem Urteil brutal sein, wie du von deiner Schwester weißt. Ich frage dich, wie ich guten Gewissens eine ohnehin schon gepeinigte Seele aus eigennützigen Bedürfnissen in meine Welt holen soll, obwohl ich das alles weiß?«
»Noah«, sagte Corrine überrascht. »Noah, du holst sie hierher, um sie zu lieben. Es gibt keine Not in der Welt, die durch diese Art von Liebe, die Prägung, nicht gelindert werden kann! Du hast selbst gesagt, dass du nicht weißt, ob sie noch immer leidet. Willst du sie leiden lassen, willst du, dass es so weitergeht, wo du doch weißt, dass du es beenden kannst?«
Noah gab einen verzweifelten Laut von sich, und seine Augen verdunkelten sich zu einem Grau. Der Gedanke war schrecklich, und er durchfuhr ihn wie tausend scharfe Messer. Mit einem einzigen Satz hatte Corrine seine törichten Vorstellungen von Edelmut in eine schreckliche Wahrheit verwandelt. Er hatte auf einmal das überwältigende Gefühl, dass er Zeit verschwendet hatte. Er begriff jetzt, dass die Zeit ein böser Feind war und dass er sich in einem tödlichen Wettlauf mit ihr befand.
»Sag mir, wie«, verlangte er. »Hilf mir, Corrine.«
Die unglückliche Prinzessin
Ein Dämonenmärchen
Die Liebesgeschichten über die Prägung mochten zwar ganz hübsch klingen, doch Sarah war sehr praktisch veranlagt für eine Prinzessin. Sie wusste, dass ihr Vater auf ein Wunder wartete, und sie wusste auch, dass sein verzweifelter Versuch, die Möglichkeiten zugunsten des Königshauses zu beeinflussen, sie wahnsinnig machen würde. Derzeit bedeutete das, sie nett auf ihren Thron zu setzen und als herausgeputzte Trophäe feilzubieten. Es war, als würde man auf einem Floß in einem Meer voll gieriger Piranhas treiben, und Sarah war nicht so dumm, auch nur einen Zeh ins Wasser zu stecken, damit sie nicht bis auf die Knochen abgenagt wurde. Also bemühte sie sich, so kalt und abweisend zu sein, dass niemand es wagen würde, ihr zu nahe zu kommen.
Genau da betrat der Vollstrecker das Spielfeld.
Sofort ging ein Frösteln durch die Reihen der Teilnehmer und durch die Menge auf den Tribünen. Man konnte genau sehen, wie sie erschauerten, Erwachsene wie Kinder, und ein Raunen erhob sich in der Menge. Die Feindseligkeit und, ja, der unverhohlene Hass, den jeder diesem mächtigen Mann gegenüber empfand, der für die Einhaltung der Gesetze des Königs sorgte und brutale, erniedrigende Strafen vollstreckte, war zu spüren.
Sarah zitterte unwillkürlich, als sie sah, wie der Vollstrecker die Arena durchschritt und die Gefühle, die er um sich herum auslöste, gar nicht zu bemerken schien. Wenn sie ehrlich war, musste sie, Angst und Vorurteil einmal außer Acht gelassen, sich eingestehen, dass sie allein von seiner Kühnheit eingeschüchtert war. Wäre er ein Krieger gewesen, hätte er sich bestimmt in der Schlacht einen Namen gemacht und Wettkämpfe wie diesen hier gewonnen. Doch seine Schlachten wurden gegen das eigene Volk geführt.
In ihrer Vorstellung war er der eine wirkliche Bösewicht. Der vom König geduldete Bösewicht.
Sein Name war Ariel, ein viel zu engelhafter Name für jemanden, der die Rolle des Bösen spielte. Er trug einen Oberlippen- und Kinnbart, der perfekt gestutzt war. Buschige dunkle Brauen standen schräg über den Augen, und sein Haar war kaum lang genug für den Zopf, zu dem es im Nacken gebunden war. Sein Haar war kohlrabenschwarz, doch der seidige Glanz war wunderbar und schimmerte fast dunkelblau im hellen Mondlicht.
Erst da hob er die Lider mit den dichten Wimpern, und zum Vorschein kamen eisblaue Augen, die jeden, der dem Vollstrecker gegenüberstand, sofort einschüchterten. Sie waren kalt und funkelnd wie geschabtes Eis.
Und sie blickten Sarah direkt an.
Die Prinzessin spürte, wie ein neuerlicher Kälteschauer sie durchfuhr, und sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Ihr kindisches Benehmen war augenblicklich vergessen, und sie setzte sich gebieterisch in Positur, wie es ihrem Stand entsprach. Wegen seines Schnurrbarts konnte sie nicht genau sagen, ob das ein Lächeln war, mit dem er sie verspottete, doch in seinen Augen lag kalte Belustigung.
Kühn ging er auf die Stufen zu, die zu ihrer Loge hinaufführten, und achtete gar
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