Schattenwandler 05. Noah
leid.«
»Ich weiß. Du hast eine sehr sensible Seele, Noah. Und eine leidenschaftliche.«
Noah spürte augenblicklich, worauf Legna anspielte. Sie sprach jetzt nicht mehr von Gideon. »Es ist überwältigend, der Empfänger deiner extremen Gefühle zu sein. Und es ist betäubend, wenn deine Liebe sich ganz auf einen konzentriert. Das ist nichts Schlechtes, mein Lieber«, versicherte sie ihm und berührte sanft seine Wange. »Du musst Kestra nur eine Anpassungsphase zugestehen.«
»Das versuche ich, Legna. Ich fühle mich nur, als wären mir die Hände gebunden. Ich will sie beschützen, doch sie sieht darin einen Angriff auf ihre Unabhängigkeit. Im einen Moment gibt sie zu, dass die nächtlichen Bedrohungen zu viel für sie sind. Und im nächsten Moment stürzt sie sich in die Dunkelheit und lässt mich ohnmächtig zurück, weil sie sich nach ihrer Privatsphäre sehnt.«
»Langsam, mein Lieber, langsam«, sagte Legna sanft und nutzte die Energie ihrer beruhigenden Stimme, um ihren aufgewühlten Bruder zu besänftigen. »Du bist das gütigste, geduldigste und liebevollste Wesen, das ich kenne. Finde zu dir. Beruhige dich. Pass auf, dass dich die Unbeständigkeit des Heiligen Mondes nicht zu sehr in Bann zieht. Entspann dich. Hab Geduld.«
Noah spürte, wie sich mit jedem Wort, das sie sprach, Frieden auf ihn herabsenkte. Legna hatte natürlich recht. Er wollte sie wiederhaben, diese geistige Klarheit, die mit dem Seelenfrieden Einzug hielt. Er konnte nicht erwarten, dass Kestra sich einfach fügte wie ein braver Dämon oder Druide. Er hatte ihr versprochen, geduldig zu sein, doch er fand es fast unmöglich, sich daran zu halten. Sie hatte ihn mehrmals darum gebeten, hatte ihn daran erinnnert, wie wichtig es für sie war, und er war nur widerstrebend darauf eingegangen.
Noah atmete tief durch und blickte in die glänzenden Augen seiner Schwester.
»Danke«, sagte er. »Ich habe mich unmöglich benommen … in vielerlei Hinsicht.«
»Ich weiß, dass die Jahre, seit ich weggegangen bin, eine Qual für dich waren. Ich habe deine Emotionen während so vieler Heiliger Monde abgepuffert, und ich war erschrocken darüber, wie erleichtert ich war, als ich das zum ersten Mal nicht mehr miterleben musste, sondern mit Gideon zusammen war.«
»Du hast das gespürt? Bis nach Russland?« Noah war betroffen. Er hatte nicht gewusst, wie sensibel Legna war.
»Wie hätte ich das nicht sollen? Es war doch so schrecklich für dich.« Legna erschauerte bei der Erinnerung. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich deswegen an den Festtagen immer noch Albträume von dir hatte. Gideon hat mir geholfen, es herauszufinden.«
»Weißt du«, sagte er und legte ihr brüderlich den Arm um die Schulter, bevor er sich mit ihr zum Schloss wandte, »du klingst langsam genauso wichtigtuerisch wie ein gewisser älterer Dämon, den ich kenne. Vielleicht war diese Heirat doch keine so gute Idee.«
»Noah!« Legna stieß ihn in die Rippen.
»Autsch«, beschwerte er sich. »Behandelt man so seinen König?«
»Ja, wenn er sich wie ein Trottel benimmt!«
Noah griff nach ihrem Zopf und zog liebevoll daran.
Ganz fest.
Dann lief er los.
19
Als Kestra etwas später das Schloss betrat, wartete Noah an der Tür auf sie, um sie mit einer angewärmten Decke in Empfang zu nehmen. Er wickelte sie ein wie einen menschlichen Pfannkuchen und zog sie fest an sich, um ihr heftiges Zittern mit seiner eigenen Wärme zusätzlich zu lindern, während er sie zum Kamin drängte. Er setzte sich und zog sie auf seinen Schoß, mit stummem, finsterem Gesicht, während er ihre Arme und Beine rieb, um die Durchblutung anzuregen.
Sein Schweigen war ein bisschen nervig, doch sie seufzte nur und schmiegte sich an seinen warmen Körper, den Kopf auf seiner Schulter und ihre kalte Nase an seinen warmen Hals gepresst. Sie musste seine Gedanken nicht lesen, um zu wissen, dass er wahrscheinlich stocksauer auf sie war. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sie trotzdem nicht schimpfte wie ein Kind. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie ihn irgendwie enttäuscht. Sie hatte ihm immerhin versprochen, an diesem Abend die Fassung zu bewahren und ihm durch den Aufruhr von Samhain zu helfen.
Sie seufzte. Das tief empfundene Gefühl dahinter veranlasste ihn, ihr seine Hand auf den Kopf zu legen und die Wärme und den Trost seiner Handfläche an sie weiterzugeben. Die Berührung verstärkte noch das Gefühl, beschützt und umsorgt zu werden. Sie schloss die
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