Schattenwandler 05. Noah
attraktive Frau mit einem dicken Zopf aus kaffeebraunem Haar hatte sich neben sie gekniet und übergab Jacob ein Baby. Dann nahm sie Bellas Hände und schloss die Augen, als würde sie sich konzentrieren.
»Meine Frau.«
»Meine Schwester.«
Gideon und Noah sprachen gleichzeitig und lenkten Kestras Aufmerksamkeit auf sich. Sie merkte, dass das Lachen schon viel leichter ging, als die beiden über ihren ausgestreckt daliegenden Körper hinweg ein ironisches Lächeln austauschten.
»Sie hätte das Baby nicht mitnehmen sollen«, schalt Noah Gideon.
»Du hast doch mitbekommen, wie ich versucht habe, ihr das auszureden. Aber deine Schwester ist eben genauso stur wie du«, war die ruhige Erwiderung.
»Du lässt ihr viel zu sehr ihren Willen«, klagte Noah.
»Lass ihr das bloß nicht zu Ohren kommen«, sagte Gideon mit unveränderter Gelassenheit, obwohl seine silbernen Augen diesmal scharf zu dem König aufblickten. Dann sah er mit einem kleinen Lächeln hinab in Kestras Augen. »Legna ist die Jüngste in der Familie und gestraft mit überbeschützendem Bruderverhalten.«
»Ich verstehe«, sagte sie und setzte ein schelmisches Lächeln auf, als sie merkte, dass sie wieder fast normal atmen und sprechen konnte. Sie holte tief Luft.
Der Griff um Kestras Hand wurde fester, und Noah hob ihre Hand an seine Lippen. »Mach sie wieder gesund, Gideon.« Sein Blick glitt bekümmert über die Verletzungen, die sie sich zugezogen hatte, als sie so brutal von den Ästen gepeitscht worden war. Ihr wurde klar, dass er ihre Schmerzen mitempfunden hatte, dass er mitgelitten und sie gleichzeitig beruhigt hatte, und ohne es zu merken, riss sie ihre Hand los und schlug sie vors Gesicht. Sie bekam Panik, weil sie wusste, dass sie sich nicht vor ihm verstecken konnte. Er war überall. Überall. Wie sollte sie ihre Gefühle und ihre Gedanken durchsehen? Würde sie jemals wieder so etwas wie Privatsphäre haben?
»Du brauchst nur zu fragen.«
Die Bemerkung war schneidender als die Oktoberluft. Sie ließ ihre Hände sinken und blickte Noah überrascht an. Sein Ausdruck war wie versteinert, und sie konnte den Schmerz und die Wut spüren, die in ihm aufwallten. Verwirrt versuchte sie zu verstehen, was diesen Wandel ausgelöst hatte. Noah war kein unvernünftiger Typ. Er würde ihre Gedanken verstehen. Warum also diese plötzliche Feindseligkeit?
»Samhain.«
Das geflüsterte Wort kam von oben. Gideon hatte den Kopf dicht über sie gebeugt, während er sie behandelte. Plötzlich erinnerte sie sich wieder. Sie waren an diesem Abend angegriffen worden und hatten eine solche Extremsituation durchlebt, dass sie sich fragte, wie sie alle so ruhig und beherrscht erscheinen konnten. Alle bis auf Noah in diesem Moment. Seine Kämpfe gingen irgendwie tiefer. Irgendetwas brachte ihn aus dem Gleichgewicht.
Und sie wusste, dass sie verantwortlich dafür war.
Kestra blickte in die Gesichter um sie herum und spürte die Blicke, die verstohlen zu dem Monarchen wanderten. Und irgendwie merkte sie auch, dass zwischen den anderen Paaren eine vollkommene Abgeklärtheit herrschte. Es war der innere Friede, der ihnen durch die Liebe, die sie verband, vollkommenes Vertrauen gab. Sie konnte Noah dieses Maß an Vertrauen und Sicherheit nicht geben, und es tat ihr leid. Darin lag die Wurzel seiner Empörung: in ihrer Unfähigkeit, sich ihm voller Vertrauen zu überlassen.
Kestra berührte seinen Arm, und die harten Muskeln zuckten unter seiner Haut. Er richtete Augen von smaragdfarbenem Feuer und dunklem Rauch auf sie, und er gab einen bedrohlichen Laut von sich. Doch sie ließ sich nicht davon entmutigen.
»Bitte«, sagte sie leise und versicherte sich seiner Aufmerksamkeit, »hab einfach ein bisschen Geduld mit mir.«
Die schlichte Bitte schien ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er stieß einen gequälten Seufzer aus und beugte sich erschöpft nach vorn. Er hatte heute Abend die Welt überbrückt, um anderen zu helfen. Er hatte nicht die Kraft, sich selbst zu helfen. Der Instinkt regierte, zusammen mit den Gefühlen, und der Mann des Wortes und der Logik wurde übermannt von Ermattung und von den Heiligen Monden.
Endlich schaffte Kestra es, sich aufzusetzen. Sie fühlte sich seltsam, wie eine Stoffpuppe, die man zusammengeflickt hatte. Auch sie war müde. Sie bemerkte, dass Gideon genauso viel von ihrer Energie verbrauchte wie von seiner, um sie zu heilen.
»Die übrigen Verletzungen werden morgen Abend verheilt sein. Am besten regenerierst du dich
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