Schattenwandler 05. Noah
Augen und versuchte, sich die Beziehung in fünf Jahren vorzustellen.
Wo wären sie dann?
Ach, zum Teufel. Sie dachte noch immer in menschlichen Dimensionen. Sie war jetzt unsterblich.
Unsterblich.
Damit hatte sie alle Zeit der Welt, etwas zu vermasseln, es wieder geradezubiegen und es dann erneut zu versuchen. Und sie musste sich nicht länger Sorgen über Krankheiten machen oder darüber, dass sie ganz leicht getötet werden konnte. Selbst gegenüber einem so erschreckenden Feind wie dem von heute Abend hatte sie bewiesen, dass sie kein leichtes Ziel war.
Es war, als wäre sie wiedergeboren worden. Genau so hatte sie es in den letzten Wochen empfunden. Es war, als wäre sie jahrhundertelang in einem Kokon gefangen gewesen und hätte erst jetzt verstanden, wie man sich daraus befreit. Sie fühlte sich wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling. Ein toller Schmetterling.
Noah gab ihr das Gefühl, dass sie schön war und neu, so als könnte sie es wagen, ihren Schutzpanzer abzulegen. Noah hatte bewirkt, dass sie wieder etwas fühlte. Er schlief mit ihr und bewies ihr, dass sie zu einer Intensität fähig war, die nur er in ihr gesehen hatte. Er hatte nie daran gezweifelt. Nicht einmal im Traum. Er hatte dafür gesorgt, dass sie Berührungen und Zuneigung zuließ, als wäre es nie anders gewesen. Die Art und Weise, wie sie sich aneinanderschmiegten, zum Beispiel. Nie hätte sie es fertiggebracht, sich bei einem Mann auf den Schoß zu setzen, und es genossen, wie er mit den Fingern durch ihr Haar strich und sie durch den Pony flüchtig auf die Stirn küsste. Nein. Für sie war es ein Akt der Unterwerfung gewesen, und es hätte sie verwundbar gemacht, wenn sie so etwas zugelassen hätte. So hatte sie es empfunden.
Vor Noah.
Und vor Noah war sie ganz allein gewesen. Stark, unabhängig und sicher. Aber allein. In einer Hülle aus Traurigkeit, Herzschmerz und Erinnerungen an alte Narben. Dieser Mann hatte alles freigelegt, jedoch nur, um sie davon zu heilen. Plastische Chirurgie fürs Herz.
Kestra lachte leise, und ein schwaches Muskelzucken verriet ihr, dass er es mitbekommen hatte. Doch er saß immer noch schweigend da. Lauschte er ihren Gedanken? Sie glaubte es nicht. Aus seinen Fragen und aus seiner ehrlichen Verblüffung vorhin hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er versuchte, ihr die Privatsphäre, an die sie gewöhnt war, zu lassen. Sie wusste auch, dass er es nicht immer schaffen würde. Auch ohne dass sie sich bemühte, konnte sie das Summen seiner Anwesenheit in ihrem Kopf vernehmen.
Sie seufzte. Sie würde wohl einfach ihren Widerstand aufgeben und lernen müssen, sich daran zu gewöhnen. Obwohl er mit einer Empathin zusammen aufgewachsen war, ging Kestra davon aus, dass dies auch für Noah eine große Umstellung bedeutete. Sie bemerkte, dass sie nicht viel darüber nachgedacht hatte, welches Opfer er gebracht hatte, um sich an sie anzupassen. Sie hatten immer nur darüber gesprochen, welche Bereicherung ihre Anwesenheit war.
»Du hast über sechshundert Jahre als Junggeselle gelebt«, sagte sie plötzlich.
Noah saß sekundenlang reglos da, während sie mit der Nasenspitze an seiner Halsschlagader seinen Herzschlag spüren konnte. Sie wusste, dass er es gehört hatte, weil seine Hände sich ein wenig fester um sie schlossen.
»Mehr oder weniger«, sagte er schließlich und ließ sie los, damit sie ihn anschauen konnte. Er hatte einen zweifelnden Ausdruck im Gesicht. »Warum sagst du das?«
»Weil du eine bestimmte Lebensweise gewöhnt bist, und nach so langer Zeit sind das alte Gewohnheiten.«
»Du …« Seine Augen wurden zu Schlitzen, bis sie nur noch Rauchschwaden sehen konnte. »Ich glaube, du hast eine falsche Vorstellung von meinem bisherigen Leben«, sagte er trocken. »Du musst wissen, dass Dämonen eine sehr enge Bindung an ihre Familie haben. Wir leben eigentlich nie allein, wenn es noch jemand anderen in der Familie gibt, der allein ist, oder wenn die Eltern noch leben. Die Heiligen Monde spielen dabei eine Rolle, wenn auch keine so große. Meistens geht es um Heim und Herd. Was nicht heißt, dass ich zu meiner Zeit nicht auch über die Stränge geschlagen habe«, betonte er. »Doch man hat mir die Pflichten eines Königs schon in jungen Jahren übertragen, also habe ich diese Lebensphase ziemlich früh durchlaufen.«
»Gut zu wissen«, sagte sie bestimmt, ein humorvolles Blitzen in den Augen.
Er setzte ein schiefes Lächeln auf. »Nachdem meine Eltern tot waren«, fuhr er fort,
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