Schattenwandler: Adam (German Edition)
Nicht irgendeine Sirene. Ich muss genau diese haben. Sie ist die älteste ihrer Art und gilt als eine der Anführerinnen ihres Volkes. Sie sollte leicht zu erwischen sein. Mistrale sind Fremden gegenüber feindlich gesinnt und leben ganz abgeschieden. Selbst untereinander. Nehmt den fähigsten und ältesten Telepathen unter euch. Bei ihm sind die Chancen am größten, dass er ihren Sirenengesängen widersteht. Seid vorsichtig und unterschätzt sie nicht.«
»Auf keinen Fall«, versicherte Darren. »Solange wir eine Kostprobe von ihr bekommen, wenn du mit ihr fertig bist.«
»Natürlich.« Ruth kicherte. »Ich würde euch einen so köstlichen und gehaltvollen Leckerbissen nie vorenthalten.«
Adam war in seinem ganzen Leben noch nie so erschöpft gewesen. Alles, was an diesem Tag geschehen war, forderte seinen Tribut. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Wie sollte er schlafen, nach allem, was er erfahren hatte, und angesichts einer ungewissen Zukunft? Deshalb war er froh, dass Jasmine keine Zeit verlieren wollte, Ruth zur Strecke zu bringen.
»Doch zuerst«, sagte sie mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen, »zuerst müssen wir dich in dieses Jahrhundert bringen.« Sie unterzog ihn einer dieser sorgfältigen Prüfungen, die ihm so auf die Nerven gingen, und ihre Augen fühlten sich an wie ein körperlicher Schlag. Er widerstand dem Drang, sie drohend anzuknurren. Was hatte diese Frau nur, fragte er sich erregt, dass sie ihn so aus der Fassung brachte?
»Was soll das heißen?«, verlangte er zu wissen.
»Das heißt, dass wir etwas zum Anziehen für dich suchen müssen. Unglücklicherweise bist du größer als alle anderen hier, also müssen wir einkaufen gehen.«
»Einkaufen?« Er runzelte die Stirn. »Habt ihr keinen Schneider?«
»Nicht hier. Aber in einem anständigen Bekleidungsgeschäft. Komm mit.«
Er hatte anscheinend keine Wahl. Er ging mit ihr mit, als sie Noahs Residenz verließ, und sah, wie sie sich in die Lüfte erhob. Nachdem er sich in einen feinen Nebel verwandelt hatte, folgte er ihr. Sie schien zu wissen, dass seine Geschwindigkeit begrenzt war, denn sie ließ sich Zeit. Er wusste, dass sie die gleichen Fähigkeiten hatte wie alle anderen Vampire und sehr schnell fliegen konnte. Die einzige Möglichkeit, mit ihrer Höchstgeschwindigkeit mitzuhalten, wäre gewesen, einen Sturm zu erzeugen und ihr mit den Winden zu folgen. Doch würde das den Menschen unter ihnen Schaden zufügen.
Sie erreichten London in kurzer Zeit. Adam hätte es nicht mehr wiedererkannt. Alles hatte sich so verändert, dass er sich fragte, wie er sich hier zurechtfinden sollte. Er wollte nicht in dieser Zukunft sein, in dieser seltsamen Zeit, in der sein Bruder so anders war und seine Leute nicht wiederzuerkennen waren. Er trauerte um seine Mutter. Sie war immer so stark gewesen, der ruhende Pol in der Familie und der Maßstab für Jacob und für ihn selbst. Und jetzt war sie nicht mehr da …
Seine Gedanken machten ihn bedrückt und schwermütig, als sie außerhalb der Stadt landeten.
»Wie weit noch?«, fragte er gereizt.
»Nur noch eine Taxifahrt entfernt.«
»Eine was?«
Sie hob eine Hand und zeigte auf die rollende Metallkiste, die am Straßenrand hielt.
»Ich setze mich in dieses Ding nicht rein«, erklärte er, als sie die Tür öffnete und einstieg.
»Doch, das wirst du. Stell es dir vor wie eine ziemlich schnelle Kutsche. Vertrau mir. Es gibt eine Menge tolle Dinge in diesem Jahrhundert.«
Weil er sich vorkam wie ein Idiot, wie er so dastand, gab er nach und quetschte seinen großen Körper in das winzige Gefährt. Seiner Meinung nach war es ein erbärmlicher Ersatz für ein Pferd, doch er musste zugeben, dass sich diese verrückten Vorrichtungen schnell und geschmeidig bewegten. Binnen Kurzem standen sie wieder am Straßenrand, nur dass sie sich jetzt im Stadtzentrum befanden. Gebäude mit riesigen Glasfassaden säumten die Bürgersteige, und die Schriftzüge auf den Scheiben besagten, dass es sich um einen »Herrenausstatter« handelte. Das kam ihm entgegen. Kein Rätselraten. Alles, von den Bekleidungsgeschäften bis zu den Cafés, war deutlich beschriftet.
Jasmine nahm ihn an der Hand und führte ihn in das Geschäft. Als Erstes fielen ihm die Menschenpuppen ohne Kopf auf, die den Besuchern Kleider vorführten. Aber was ihn wirklich faszinierte, waren die feinen Nähte der Kleidungsstücke. Die Stoffe waren ungeheuer vielfältig, doch es war auch gut zu sehen, dass manche Dinge sich nicht
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