Schattenwende
würde er ihre Seele aussaugen. Als krönende Pointe. Er würde zusehen, wie zuerst ihr Geist und dann ihr Körper starb, weil er es so wollte und es in seiner Macht stand. Ein klagendes Heulen entrang sich seiner Kehle. Seine Fantasien stachelten seinen unstillbaren Hunger nur noch weiter an.
„Bringt sie mir“, säuselte er mit einer verführerischen, exotisch anmutenden Stimme.
Die Menschen in den seltsamen Kitteln hielten in ihren Bewegungen inne und wandten ihre Köpfe im Zeitlupentempo zu ihm. Er las Neugier und eine perverse Zufriedenheit in ihren Gesichtern. Einige gestikulierten wild mit ihren Händen und deuteten immer wieder auf ihn, schüttelten die Köpfe, während andere in die Hände klatschten und laut jubelten. Er mochte das Lachen aus ihren Mündern nicht – er liebte die panischen Schreie und das bettelnde Wimmern viel mehr. Missmutig zog er ein letztes Mal an dem Eisen, das ihn bändigte, und fauchte in die Menge, deren Begeisterung dadurch nur noch mehr angefacht schien.
Nur die Puppe hatte Angst. Er roch es und stöhnte auf, so sehr zerrte dieser herrliche Duft von Furcht an ihm. Er lächelte sie animalisch an und beobachtete fasziniert, wie ihre Pupillen sich weiteten, als sie den dämonisch roten Schein in seinen Augen sah.
Sie wusste, dass sie ihm gehörte. Mit Haut und Haaren.
Sie hob die Hand und bedeckte damit ihren Mund, als wolle sie einen Schrei unterdrückten.
„Der Seelenlose ist erwacht“, flüsterte sie entsetzt.
Daphne wurde von einem markerschütternden Brüllen aus dem Schlaf gerissen. Es schwoll an und zerbrach die Stille um sie herum. Ein zweites, ein drittes und dann ein viertes Brüllen mischten sich in das erste, bis der Lärm ihren ganzen Körper und ihren Geist ausfüllte. Erschrocken sprang sie aus dem Bett und sah sich in dem verdunkelten Zimmer nach Angreifern um. Ihr Herz raste, als ihre Sehkraft sich langsam an die Dunkelheit gewöhnte und die Umrisse der Möbel von einem verschwommenen Schimmern zu scharfen Konturen wurden. Friedliche Stille schlug ihr entgegen, in der sie ihr laut pochendes Herz und das Blut in ihren Ohren rauschen hörte.
Nach den ersten Schrecksekunden wurde ihr bewusst, dass das Brüllen nicht wirklich da gewesen war. Es hatte seinen Ursprung in ihren Gedanken gehabt. Es war kein Kampfgebrüll. Nein, ein Laut voller Triumph und Genugtuung hatte sie bewegt.
Daphne griff nach dem dunkelroten Morgenmantel, den Ria ihr geschenkt hatte. Der seidene Stoff fühlte sich wunderbar kühl und glatt auf ihrer Haut an und umschmeichelte sie liebkosend. Mit den Fingern bürstete sie sich nachlässig die schwarzen Locken und band sie mit einem Band so zusammen, dass ein lockerer Zopf über ihre rechte Schulter fiel. Ihre Augenlider waren schwer und fühlten sich verklebt an. Alles in allem sah sie nicht sehr frisch aus, doch ihr war das gleich. Entgegen Reagans Ansicht interessierte es sie nicht, was die anderen von ihrem Aussehen hielten. Sie wusste selbst, dass sie keine Schönheit war, deshalb hatte sie sich auch nie wie eine benommen.
Barfuss verließ sie das Gästezimmer und tapste über den Flur nach unten. Sie durchquerte das Wohnzimmer, in dem sie sich inzwischen auch im Dunkeln problemlos orientieren konnte, und drückte die Tür zur Küche auf.
Zu ihrer Überraschung hatte die ganze Gemeinschaft sich hier versammelt. Auch Ria war da und presste ihre Hände an eine dampfende Kaffeetasse. Sie trug wie sie selbst einen Morgenmantel und sah verschlafen aus. Insgeheim bewunderte Daphne, wie wunderschön die Rothaarige selbst dann aussah, wenn sie offenbar gerade aus dem Bett gestolpert war. Sie konnte verstehen, warum Damir sie so vergötterte und beschützte.
Als sie die Tür quietschend hinter sich schloss, wandten sich ihr alle Köpfe zu.
„Guten Abend“, grüßte sie zurückhaltend. Sie vermied es, Reagan anzusehen, denn sie ahnte, dass sie dann erneut einen Tränenausbruch erleiden würde. Vor den anderen Kriegern wollte sie die Fassung bewahren und ihre Disziplin beweisen. Und tief in ihrem Inneren flüsterte ihr eine Stimme zu, sie solle Reagan demonstrieren, dass sie auch ohne sein Wohlwollen leben konnte.
Ria stellte ihren Becher auf die Anrichte und trat ihr mit einem freudigen Lächeln entgegen.
„Guten Morgen, meine Liebe! Ich hoffe, du hast in deiner ersten Nacht gut geschlafen?“
Daphne brachte ein höfliches Lächeln zustande.
„Das Zimmer ist großartig, Ria. Das Bett erst recht. Da bleibt einem gar
nichts
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