Schattenwende
ihr aufloderte. Doch nun waren da noch andere Dinge. Dinge, von denen sie glaubte, sie geträumt zu haben. Von einer falschen Wahrheit. Von einem Mann mit hellblauen Augen, der etwas gesagt hatte, was ihr unglaublich wichtig erschienen war. Ihre Erinnerungen schienen verrückt zu spielen und etwas mit ihr anzustellen, sodass sie nicht mehr wusste, was wahr und was gelogen war.
„Bist du auch eine … eine von … ihnen?“
Daphne lachte auf, hell und leise und irgendwie … aufrichtig.
„Nein, Niamh. Ich bin keine von ihnen. Vielleicht gehöre ich zu ihnen, aber ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, genau wie du. Und genau wie du bin ich dennoch anders als gewöhnliche Menschen.“
Niamh dachte über diese Worte nach, auch wenn es furchtbar schwer war, sich zu konzentrieren. Ihr Verstand schien sich verabschieden und in die unendliche Weite des Schlafes zurückkehren zu wollen. Anders. Sein markantes Gesicht stieg in ihre vernebelten Gedanken und ließ sie erschauern.
„Ich habe Angst“, gestand Niamh flüsternd.
Sie wusste, dass der Vampir wiederkommen würde. Und sie wusste, dass er sie verabscheute. Er war ein Vampir und sie war ein Mensch von jener Sorte, die ihn und seine Rasse gnadenlos bekämpft hatte. Sie hatte immer geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen. Sie hatte schließlich mit ihren eigenen Augen gesehen, was Vampire anrichten konnten.
Jetzt aber war sie sich nicht mehr sicher. Der Schlüssel zur Wahrheit schien ihr nahe, ganz nahe. Vielleicht lag er in dieser Frau oder in dieser Gemeinschaft, von der sie sprach.
Die Aussicht auf die Wahrheit, die Möglichkeit zu erfahren, ob dieser Vampir mit seiner Meinung Recht hatte, wühlte sie auf und raubte ihr dennoch die Kraft, sich wach zu halten.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sprach Daphne leise und so beruhigend, dass Niamh langsam eindämmerte. Sie wollte nicht, doch sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Körper forderte seinen Tribut für all die Verletzungen. Niamh wusste nicht, wie stark ihre Verletzungen waren, ob sie von nun an durch Narben auf ewig gezeichnet sein würde. Sie spürte nur den Schmerz in ihren Gliedern.
Als würde dieser Schmerz sie für etwas bestrafen wollen.
Sie schlief ein, verfolgt vom tadelnden Geraune ihres Gewissens, von dem sie immer gedacht hatte, es existiere nicht mehr.
Mit bekümmerter Miene blickte Daphne auf die Frau hinab, deren Erschöpfung sich deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete.
Der vierte Tag war nun beinahe vorbei. Vor vier Tagen hatte Dwight sie ohne ein Wort zu sagen vom Sofa aufgehoben und in das Gästezimmer getragen, das an sein Appartement grenzte. Er hatte sie und Ria auf die bekannte barsche Weise aufgefordert, sich um Niamh zu kümmern. Seitdem war er nur zum Essen und zum Training aus seinem Reich aufgetaucht, ansonsten verschanzte er sich und brütete vor sich hin, ohne sich an den Reisevorbereitungen zu beteiligen. Niemand wusste, was in ihm vorging, obwohl Daphne eine vage Ahnung hatte. Aber es wäre selbstmörderisch gewesen, sie auszusprechen.
Die Fleischwunden hatten sich in diesen wenigen Tagen erstaunlich schnell geschlossen, die Schürfungen im Gesicht waren nur noch schwach gerötet und die Prellungen im Rippenbereich mussten mittlerweile weniger schmerzhaft sein. Was Daphne und Ria Sorgen bereitete, war das hohe Fieber, das kurz nach Niamhs Ankunft im Herrenhaus bei ihr ausgebrochen war und sich seitdem eisern und schwer kontrollierbar hielt. Die beiden Liyanerinnen wussten keinen Rat, denn es hatte den Anschein, alsläge die Ursache für das Fieber in Niamhs Psyche. Als wolle sie gar nicht wieder gesund werden.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Abreise der Gemeinschaft schon sehr bald stattfinden sollte, war das äußerst beunruhigend. Dwight bestand darauf, Niamh mitzunehmen, um sie als potenzielle Gefahr im Auge behalten zu können. Das sagte er jedenfalls.
Müde rieb Daphne sich mit der Handfläche über die Augen. Sie war es nicht mehr gewohnt, ihre Barrieren über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten, jedenfalls nicht in einem Haus voller Lebewesen, die auf einem weitaus höheren geistigen Level als gewöhnliche Menschen standen. Sie hatte immer noch nicht die Tragweite ihrer mentalen Kräfte ermessen können. Sie wusste, dass sie gewaltig sein mussten, wenn Cayden das Sonnenlicht kontrollieren, Dwight andere Menschen mit nur einem mentalen Befehl auf die Knie zwingen und Reagan mit einem einzigen Blick Gegenstände beherrschen konnte.
Als
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