Schattenwende
fühlte sich nun wie gerädert. In aller Frühe war sie aufgestanden und hatte sich in die Metro gesetzt, um ihre Tochter abzuholen.
„Daphne, ich …“ Die Stimme ihrer Schwester riss sie aus ihren Gedanken und sie sah auf.
„Gibt es vielleicht etwas, das ich wissen sollte?“
Da war sie wieder. Die Atemnot, die Daphnes Brust zuschnürte und ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie es ihr gelang, die eiserne Fassade vor ihrer Schwester aufrecht zu erhalten, aber sie wusste, wie groß Janets Besorgnis sein würde, wenn sie von der wahren Situation erfahren würde. Das hatte ihre Schwester nicht verdient und Daphne wollte es ihr auch auf keinen Fall zumuten. So schüttelte sie nur lächelnd den Kopf und legte ihre Hand auf die Janets.
„Es ist alles etwas knapp, aber ich kriege das auf die Reihe. Wirklich.“
Ihre Schwester seufzte bekümmert und erwiderte den Druck ihrer Finger.
„Mark und ich … Nun, wir haben uns so unsere Gedanken gemacht. Und ehrlich gesagt … Wir würden euch beide gern bei uns aufnehmen. Ich meine, wir haben soviel Platz in diesem großen Haus und da haben wir überlegt, wie schön es wäre, wenn wir alle zusammen hier leben könnten. Du weißt ja, ich werde niemals Kinder bekommen können. Mein Arzt hat es mir letzten Monat noch mal bestätigt. Was also sollen wir beide allein hier?“
Daphnes erste Reaktion war, das Angebot brüsk abzuweisen. Es versetzte ihrem Stolz einen schmerzhaften Schlag. Sie ballte die Hand, die unter dem Tisch auf ihrem Schoß lag, zu einer Faust.
„Versteh mich nicht falsch …“ Janet deutete ihren abweisenden Gesichtsausdruck sofort richtig.
„Du kannst auch Miete bezahlen, wenn dir das lieber ist. Aber ich stehe jeden Tag solche Ängste aus, dass euch da drüben was passiert. Die Gegend ist für ein kleines Mädchen wie Halie nichts, Daphne. Denk andeine Tochter. Mit uns allen hier hätte sie es doch viel lustiger. Und es ist immer jemand da, wenn du arbeiten musst.“
Daphne erwiderte nichts, sondern zog die Argumente, die Janet anbrachte, in Erwägung. Sicher, in einem hatte sie recht. Für Halie wäre dieses Arrangement unbezahlbar. Sie könnte so aufwachsen, wie Daphne es sich immer für sie gewünscht hatte. Sorglos und frei. Sie hätte alle Möglichkeiten, Interessen zu entwickeln und all ihre Potentiale voll auszuschöpfen.
Brentwood war eine harmlose Vorstadtgegend. Das würde bedeuten, die ständige Angst, die sie um ihre Tochter ausstand, würde sich um ein beträchtliches Stück reduzieren.
„Ich will nicht, dass du, als meine Schwester, mich für eine schlechte Mutter hältst.“
Daphne zog ihre Hand zurück und umfasste den Griff ihrer Tasse, deren Inhalt inzwischen kalt geworden war.
„Du bist keine schlechte Mutter, Daphne. Das wollte ich damit nie behaupten. Halie hat die fürsorglichste Mutter, die man sich nur wünschen kann. Du würdest alles für sie tun, das weiß ich. Aber die Zeiten sind so schwierig.“
Janet beugte sich nach vorne und schaute sie flehend an.
„Bitte Daphne … Gib dir einen Ruck.“
Daphne schloss die Augen und in ihrem Inneren baute sich das Bild ihrer viel zu kleinen und kargen Wohnung auf. Konnte sie es Halie wirklich zumuten, die nächsten langen Jahre, die für ihre Entwicklung so wichtig sein würden, in dieser Bruchbude zu verbringen? In einer Gegend, die so gefährlich, so abgestumpft war? In der man sich vor seinem eigenen Schatten fürchten musste? War sie nicht für das Wohl ihrer Tochter dazu in der Lage, ihre eigene Würde abzulegen und den Vorschlag ihrer Schwester anzunehmen?
„Okay“, sagt sie leise, „von mir aus.“
Janet atmete befreit auf und strahlte über das ganze Gesicht, als sie aufsprang, den Tisch umrundete und ihre Schwester in die Arme schloss. Daphne konnte ihre Erleichterung bis ins Knochenmark spüren und erwiderte die Umarmung zögerlich.
„Aber Janet, hör mir zu. Ich bezahle euch wirklich Miete. Schließlich will ich nicht, dass wir auf eure Kosten leben.“
„Natürlich kannst du das“, bestätigte ihre Schwester den Vorschlag überglücklich und warf Mark, der die Küche in diesem Augenblick betreten hatte, einen freudigen Blick zu.
„Sie hat Ja gesagt, Schatz!“
Daphnes Schwager lächelte freundlich.
„Das freut mich, Daphne. Ich werde gleich einen Freund anrufen, der einen Van hat. Dann können wir noch heute deine Sachen holen, wenn du damit einverstanden bist.“
Daphne fühlte sich wie vor den Kopf
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