Schattenwende
höher. Sie müssen einen immens großen Energiebedarf haben, um ständig wie ein wandelnder Ofen durch die Gegend laufen zu können.“
„Das kann ich mir vorstellen“, murmelte Smith zustimmend.
„Dann können Sie sich sicherlich auch vorstellen, auf welche Weise sie diesen hohen Bedarf abdecken“, fuhr sie kühl fort.
„Nun“, antwortete er zögernd. „Ich weiß, dass sie menschliches Blut brauchen. Sagen Sie mir, Mrs. Seeberg, auf welche Weise beschaffen sie es? Haben Sie darüber Informationen?“
Sie lachte.
„Aber Mr. Smith. Die Erforschung von Vampiren läuft nach meinen Kenntnissen bereits seit über tausend Jahren. Natürlich haben wir darüber Informationen. Wir haben beinahe über alles Informationen. Wir wissen über ihre Lebensweise, ihre Ernährung und ihre sozialen Verhältnisse Bescheid. Sogar über die übersinnlichen Fähigkeiten, die viele Vampire besitzen. Nur weil unsere Agenten sie nicht töten dürfen, heißt das nicht, dass wir sie nicht beobachten. Sie beschaffen das Blut mit Hilfe ihrer unmenschlichen Fähigkeiten. Sie fangen ihre Beute mit Charme und gewissen Duftstoffen ein und wenn sie in ihr Spinnennetz tappt, schlagen sie zu. Es übersteigt zwar unsere Vorstellungskraft, da es wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden konnte, doch irgendwie können sie ihr Opfer danach einschläfern, um sich folglich in aller Ruhe von ihm zu nähren. Die meisten saugen ihr Opfer nicht komplett leer, hin und wieder kann es allerdings vorkommen. Wenn es Ihnen bei Ihrer Arbeit hilft, kann ich Ihnen gerne unsere Lehrbücher zukommen lassen.“
Smith nickte erfreut, denn all diese Informationen konnte er sich nicht merken. Bis ihm einfiel, dass die Frau am anderen Ende der Leitung ihn ja gar nicht sehen konnte.
„Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Ich weiß zwar noch nicht, ob es mir bei der Gen-Erforschung tatsächlich nützlich sein wird, aber vielleicht schärft man mit einem soliden Hintergrundwissen ja seinen Blick für andere Aspekte, die man vorher außer Acht gelassen hat.“
„In der Tat, das könnte möglich sein. Gab es noch einen anderen Anlass, weshalb sie mich angerufen haben, außer den medizinischen Daten? Die Arbeit ruft wieder.“
Das war der kritische Punkt. Smith wusste, dass er diese Frage besser nicht stellen sollte, doch seine Neugier beflügelte ihn. Nein, eigentlich nicht. Das war nur die Ausrede, die er sich selbst immer wieder, Stunde für Stunde einreden wollte.
Er hätte besser nicht an seine leiblichen Eltern gedacht. Jetzt war etwas in ihm aufgerüttelt, was er hätte ruhen lassen sollen.
Er biss sich auf seine schmale Unterlippe und leckte sich mit der Zunge darüber.
Niamh Seeberg, die Ärztin, die für die Kellerabteilung zuständig war, in der man die Blutentnahme durchführte, war eine undurchsichtige Person. Sie war höflich, aber distanziert und unnahbar. Kein Lächeln zierte ihre Lippen, sie war stets streng und steril gekleidet, und in ihren Augen blitzte manchmal etwas auf, das er nicht verstand, auch wenn er sie, seit er ihr vorgestellt worden war, öfter im Gebäude angetroffen hatte. Er wusste nicht, inwieweit sie misstrauisch werden würde, wenn er ihr die Frage stellte, die ihm schon seit langem auf der Seele lag.
„Mr. Smith?“ Sie wurde ungeduldig.
„Verzeihen Sie, ich war gerade in Gedanken versunken“, entschuldigte er sich.
Was soll’s, er musste es versuchen.
„Nun, mich würde noch eines interessieren“, beeilte er sich zu sagen. „Mr. Jones erklärte mir, dass unsere Arbeit im Dienste der Menschheit stehen würde und wir ihr einen Gefallen tun werden, wenn wir Mittel und Wege finden, die Rasse der Vampire endgültig von unserem Planeten zu tilgen.“ Innerlich ermahnte er sich, wachsam zu sein und sich naiv zu geben. Allein die Tatsache, dass er so weit voraus dachte, erstaunte ihn selbst, und er vergaß fast, fortzufahren, bis es in der Leitung vernehmlich knackte.
„Ich fühle mich selbstverständlich sehr geehrt, Teil eines so selbstlosen Projektes zu sein, mit dem ich etwas Gutes in diese Welt bringen kann. Mein beruflicher Forschungsdrang in Verbindung mit meiner Unwissenheit quält mich aber seit der Stunde, in der ich unten bei Ihnen im Keller war, mit einer Frage, die sich mir unweigerlich immer wieder aufdrängt: Welchen Taten oder Umständen entnehmen Sie die Erkenntnis, Vampire seien böse?“
„Diese Erkenntnis entnehmen wir einer Erfahrung, die bereits Jahrhunderte alt ist, Mr. Smith.“ Mrs. Seeberg
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