Schattierungen von Weiß
schlagartig dunkel geworden.
„Sie können dort nicht mehr stehen bleiben“, wies ihn ein Zöllner an.
„Ist ja gut!“, fauchte Levin ihn an.
Dabei hatte er vorgehabt, hier vor dem Gebäude zu bleiben, bis man Mia fortbrachte, vielleicht konnte er sie ja noch einmal sehen. Aber selbst das schien man ihm nicht zu gönnen.
Wütend schlug Levin auf das Lenkrad ein, als er sich wieder in den Hanomag gesetzt hatte. Er suchte sich einen Parkplatz auf dem Hafengelände und griff nach seinem Handy. Bis nach Berlin waren es laut Routenplaner zweitausendsechshundert Kilometer, Levin stöhnte, dafür würde er mit dem Hanomag wohl knapp drei Tage brauchen.
Er stand auf und wollte sich einen Kaffee machen, er musste versuchen, alles nüchtern zu überdenken und Ruhe zu bewahren, sonst war er Mia keine Hilfe.
Doch Levin stutzte und blieb stehen, ihre Sachen waren alle noch da.
Er konnte es nicht verhindern, Tränen schossen ihm in die Augen, bahnten sich dann einen Weg über sein Gesicht.
Levin griff nach dem kleinen Stoffkamel, das sie in Paris auf dem Trödelmarkt gekauft hatten, Mia liebte dieses kleine Tierchen, jedes Mal, wenn sie es ansah, leuchteten ihre Augen. Er verbarg sein Gesicht an dem Plüschtier und schluchzte hemmungslos auf.
Levin wusste nicht mehr, wann seine Tränen versiegt waren, er schimpfte selbst mit sich, dass er sich so hatte gehen lassen.
‚Denk nach!’ , befahl er sich selbst.
Mia hatte also ihre Eltern umgebracht, sie musste so ungefähr vierzehn Jahre alt gewesen sein. Kein Kind in dem Alter tut so etwas aus purer Bösartigkeit und niemand wurde als Mörder geboren, es musste also etwas ganz Gravierendes dahinter stecken. Doch ohne genaue Informationen über ihr familiäres Umfeld und die sozialen Verhältnisse konnte er nur spekulieren.
Warum bringt ein Teenager seine Eltern um?
Die üblichen Konflikte in der Pubertät konnten das doch unmöglich sein. Und Mia erschien ihm in keinster Weise abgebrüht oder aggressiv.
War sie wirklich krank? Gab es ein Krankheitsbild, das so einen Gewaltausbruch erklären würde?
Oder war es gar Notwehr? Wurde sie misshandelt?
Levin drehte es fast den Magen um, wenn er nur daran dachte, was sie alles in ihrer Jugend erlebt haben könnte.
Dass man sie entlassen hatte, deutete aber darauf hin, dass man sie für stabil oder für ungefährlich genug hielt, sie auf die Welt loszulassen. Allerdings war sie erschreckend naiv, wie hatte man annehmen können, dass sie tatsächlich alleine klar kam?
Andererseits stand sie ja unter Betreuung…
In Levins Kopf wirbelten die Gedanken herum, aber von hier aus konnte er nichts ausrichten. Er musste sich auf den Weg zurück machen , und je länger er hier saß und grübelte, desto mehr Zeit verschenkte er.
Doch plötzlich fiel ihm etwas ein, was hatte Mia eben gesagt?
„Ja, ich habe ihn umgebracht.“
‚Ihn’ umgebracht? Wieso sprach sie nur von ihrem Vater – was war mit ihrer Mutter? Man warf ihr doch vor, beide getötet zu haben, Mia redete aber nur von ihm.
Ihm fiel ein, dass sie auch, als sie einmal am Strand waren, nur gesagt hatte, dass sie ihre Mutter vermisste, aber nichts von ihrem Vater. Levin wurde bald wahnsinnig, er schnappte sich sein Handy und wählte die Nummer seines Vaters.
„Ja? Levin?“ , er klang erfreut. „Wo steckst du? Und wann kommst du zurück? Du bist jetzt schon vier Wochen unterwegs…“
„ Es waren acht Wochen abgesprochen, erinnere dich“, antwortete Levin. „Aber ich mache mich heute auf den Weg zurück nach Deutschland. Ich bin in Tarifa, das wird also noch ein bisschen dauern.“
„ Tarifa? Das liegt an der Straße von Gibraltar“, kam es erstaunt.
„Ja, ich hatte vorgehabt, nach Marokko zu reisen, aber das hat sich jetzt erledigt. Dad, ich brauche deine Hilfe“, sagte Levin hastig.
„Was ist los? Hast du einen Unfall gebaut? Oder Ärger?“
„Nein, nichts dergleichen. Ich habe eine junge Frau kennen gelernt, die steckt in Schwierigkeiten. Bitte suche mal heraus, was du über Mia Kessler in Erfahrung bringen kannst. Sie wohnt in Hamburg und ist vor neun Jahren verurteilt worden wegen Mordes an ihren Eltern.“
„WAS? Und so jemanden kennst du?“, kam es entsetzt.
„Ja, das tue ich. Ich möchte ihr helfen, bitte Dad. Ich bitte dich als Anwalt, nicht als Sohn. Zur Not bezahle ich dich auch.“
„Als ob du dir das leisten könntest“, knurrte sein Vater. „Aber gut, ich schaue mal nach, was ich finde.“
Levin atmete auf.
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