Schattierungen von Weiß
stand.
„Ja, das konnte man merken. Mia hat Sie sehr verteidigt, als wir mit ihr nach ihrer Rückkehr gesprochen haben. Es ist wichtig für mich zu wissen, ob Sie sie lieben.“
„Sagte ich das nicht?“
„Viel für jemanden empfinden ist nicht unbedingt das Gleiche wie jemanden lieben…“, beharrte die Therapeutin.
„Ja, ich liebe Mia. Und mir liegt sehr viel daran, dass sie so schnell wie möglich wieder frei kommt.“
Lydia nickte. „Das freut mich zu hören, denn ich denke, dass es Mia genauso geht. Leider verschließt sie sich immer mehr, sie hat nur das Nötigste erzählt und wir befürchten, dass sie schlimmstenfalls wieder verstummen wird. Außerdem verweigert sie die Nahrung, auch das kennen wir schon von ihr und das beunruhigt uns sehr.“
„Was?“, Levin riss entsetzt d ie Augen auf. „Aber… oh nein!“
„Als Mia wieder zu uns kam, sah sie gut aus, sie trug farbige Kleidung und hatte einen gesunden Teint. So kennen wir sie überhaupt nicht.“
„Warum hat sie immer weiß getragen?“, fragte Levin.
„Weiß ist die Farbe der Unschuld. Für Mia hat das eine hohe Symbolkraft, es ist wie eine Demonstration.“
„Ist sie es denn? Unschuldig?“
„Am Tod ihrer Mutter – ja, davon sind wir mittlerweile überzeugt. Ihren Vater hat sie mit mehreren Messerstichen getötet“, erklärte Lydia ihm mit ruhiger Stimme.
„Bitte sagen Sie mir doch, was geschehen ist“, bat Levin sie verzweifelt.
„Sie kennen die Gerichtsakten – Mias Version ist eine andere. Nur leider konnte sie zu dem Zeitpunkt der Verhandlung nicht reden, sie war apathisch und stumm. Nur ihre Augen haben gesprochen, doch das zählte leider nicht. Mia hat sehr ausdrucksstarke Augen“, Lydia lächelte in sich hinein. „Man kann soviel in ihnen lesen…“
„Ich weiß“, Levin wurde ungeduldig. „Bitte, Lydia…“
„Wir haben sehr behutsam mit ihr gearbeitet, es ging immer nur in kleinen Schritten voran und es gab viele Rückschläge. Sie hat andauernd nur ein Lied hören wollen, im Nachhinein stellte sich heraus, dass es das Lied war, das gerade im Radio lief, als sie ihren Vater umbrachte. Aber erst nach einem Jahr begann sie zu reden, wir waren mit ihr bei einer Reittherapeutin, ein Pferd hat sie mit der Schnauze angestupst, das schien sie sehr berührt zu haben, im wahrsten Sinne des Wortes.“
Levin nickte nur, er dachte an die Kamele und an das Strahlen in Mias Augen, er öffnete den Rucksack und holte das kleine Plüschtier heraus.
„Kann ich mir vorstellen“, er zeigte es Lydia.
Sie lachte etwas. „Ein Kamel?“
„Es steht wohl für Marokko. Ich habe es ihr auf einem Flohmarkt in Paris gekauft“, Levins Stimme wurde ganz heiser, dann besann er sich, er wollte doch Mias Geschichte hören.
„Es dauerte dann aber noch ein weiteres Jahr, bis sie mit der Wahrheit herausgerückt ist. Jedenfalls sind wir davon überzeugt, dass es die Wahrheit ist.“
„Und?“
„Mia erzählte, dass sie am Tattag zur Schule gegangen ist. Sie war gerade angekommen, als sie feststellte, dass sie ihren Taschenrechner vergessen hatte. Die Mathematiklehrerin war wohl sehr streng, Mia hatte Angst vor ihr und rannte zurück nach Hause, um ihn zu holen. Als sie die Türe öffnete, sah sie, dass ihr Vater in der Küche ein Messer saubermachte, im ersten Moment hat sie nicht realisiert, was er da tat. Er hat sie angeschrien, was sie hier wolle, Mia hat es ihm erklärt. Der Vater wollte sie aber nicht in ihr Zimmer lassen, doch Mia konnte an ihm vorbei, auf dem Weg in ihr Zimmer kam sie am Wohnzimmer vorbei, dort lag ihre Mutter in einer Blutlache. Der Vater wollte Mia beruhigen, hat etwas von einem Einbrecher erzählt, doch Mia sagte, sie wusste sofort, dass er es gewesen war. Er hatte ihre Mutter schon oft geschlagen, genauso wie Mia, er war ein Trinker und zudem krankhaft eifersüchtig. Mia hat mitbekommen, dass es ihm nicht recht war, dass ihre Mutter als Kellnerin arbeitete, er hatte wohl Angst, dass die Gäste sie anmachen würden. Sie vermutete, dass es wieder darum Streit gab und er sie erstochen hat.“
Levin hörte angespannt zu, er wagte kaum noch zu atmen.
„Mia sagte, sie habe in dem Moment nur noch Hass gespürt, sie war nur noch beseelt von dem einen Gedanken. Sie sei in die Küche gelaufen, habe sich das Messer, das immer noch an der Spüle lag, geschnappt und dann ins Wohnzimmer gerannt. Dort stand ihr Vater, sie hat auf ihn eingestochen, ganz oft, sie wollte sichergehen.“
Lydia verbarg ihr Gesicht
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