Schatzfinder
nicht erst nach dem Tod – sondern auch und gerade zu Lebzeiten. Die amerikanische Verfassung verbrieft sogar das Glücklichsein. Besser gesagt, nicht das Glücklichsein, sondern das Recht auf die Möglichkeit, sein Glück anzustreben. Mit dem Versprechen, dass es morgen besser ist als heute.
Es geht nicht darum, glücklich zu werden, sondern glücklich zu sein.
Mir geht es aber vor allem um die Haltung zur Gegenwart. Also nicht darum, wie man glücklich wird, wie man frei wird, wie man wahres Commitment erlangt. Sondern darum glücklich, frei und committed zu sein. Jetzt! Es geht nicht darum, glücklich zu werden, sondern glücklich zu sein.
Freiheit, die ich meine
An einem kalten Morgen an einem hundsgewöhnlichen Wochentag stellte sich ein junger Mann an eine U-Bahn-Haltestelle in Washington und spielte auf seiner Geige. Er hatte seinen Geigenkasten geöffnet, ein paar Münzen lagen schon darin. So wie es jeden Tag in jeder Stadt geschieht.
Er hatte eine Baseball-Kappe auf dem Kopf und spielte eine Dreiviertelstunde lang klassische Musik. Sechs Stücke insgesamt. 1097 Menschen gingen an ihm vorbei. Sieben von ihnen blieben kurz stehen, stellten sich einige Meter weit entfernt an den Rand der Unterführung, um ihm kurz zuzuhören, bevor sie weiterhasteten. 27 Menschen warfen Münzen im Wert von insgesamt 32 US-Dollar in den Geigenkoffer.
Einmal kam eine junge Frau mit einem dreijährigen Kind an der Hand vorbei. Der Junge war sofort interessiert und schaute den Geiger fasziniert an. Er wollte stehen bleiben, aber seine Mutter zerrte ihn vorwärts, augenscheinlich sehr in Eile. Der kleine Junge wehrte sich und wollte sich losreißen, um dem Geiger zuhören zu können. Noch im Vorbeigehen wendete er sich immer wieder um, seine Mutter schleifte ihn weiter und wechselte die Hand, um ihren Körper zwischen den Straßenmusiker und ihr Kind zu bringen und dem Jungen die Sicht zu versperren.
Während der Geiger das letzte seiner sechs Stücke spielte, blieb eine Frau stehen. Sie stellte sich direkt vor den Geigenkasten und schaute den Mann verblüfft an. Dann kam ein breites Grinsen auf ihr Gesicht, das sie nicht mehr losließ, bis das Stück zu Ende war. Dann applaudierte sie, als Einzige von 1097 Menschen. Sie sprach den Mann an, ganz aufgeregt: »Ich habe Sie vor drei Wochen gesehen, drüben in der Kongress-Bibliothek bei Ihrem freien Konzert. Sie waren fantastisch! Unglaublich, dass Sie hier spielen! Ich bin begeistert. Oh, mein Gott! So etwas kann einem nur in Washington passieren!«
Sie hatte den Musiker erkannt. Es war Joshua Bell, einer der besten und berühmtesten Violinisten unserer Zeit. Er leitet seit der Spielzeit 2011/2012 die Academy of St. Martin in the Fields in London als Musikdirektor, und das ist mit das bekannteste Kammerorchester der Welt.
Während er spielte, lief eine Videokamera und zeichnete das komplette »Konzert« auf, das die Washington Post im Rahmen eines Experiments in der Washingtoner U-Bahn arrangiert hatte. Bell spielte sechs der berühmtesten und schwierigsten Stücke, die man auf einer Violine spielen kann, beispielsweise die »Chaconne«von Johann Sebastian Bach aus der Partita Nr. 2 in d-Moll. Und er spielte auf einer der schönsten, klangvollsten und teuersten Instrumente, die es gibt, auf einer berühmten Stradivari, der »Gibson ex Huberman«, die Bell für 3,5 Millionen US-Dollar gekauft hatte.
Um das zu hören, was er an der U-Bahn-Station aufgeführt hatte, geben Tausende Menschen ansonsten 100 Dollar für einen Platz in der Konzerthalle aus, hier gaben über 1 000 Menschen zusammen 30 Dollar aus. Normalerweise erhält Joshua Bell Standing Ovations für seine herausragende Spielkunst, in der U-Bahn applaudierte eine Frau, und auch nur, weil sie ihn erkannt hatte.
Wer frei ist, der ist offen für Neues. Sie war frei von der vorgefertigten Annahme über die Qualität von Straßenmusikern – oder es lag wirklich nur daran, dass sie ihn erkannt hatte. Wie frei sind wir, wenn wir die herausragende Schönheit von Musik nicht mehr wahrnehmen können? Wenn wir nicht offen genug sind, um einen der besten Künstler unserer Zeit wahrzunehmen? Auf dem Video kann man sehen, wie engagiert Bell gespielt hat, und man kann hören, wie faszinierend er spielt. Wenn man es weiß und man darum darauf achtet, ist es verblüffend zu hören, was er aus diesem wunderbaren Instrument herausholt, selbst für einen Laien. Aber wir sind nicht frei dafür – im Gegensatz zu dem dreijährigen
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