Schatzfinder
nicht missen wollen, die uns an den Boden ketten, ohne dass wir es merken.
Was ist beispielsweise eine wertvolle Uhr anderes als eine Fessel? Ein dummes Tauschgeschäft, ein Abhängigkeitssymbol? Die Uhr zeigt auch nicht besser die Zeit an als das Handy, und doch arbeiten manche Menschen drei oder sechs Monate oder länger, um sich eine Rolex leisten zu können.
Die größte Rolex-Dichte herrscht bekanntermaßen unter Kellnern, also bei Menschen, die tagaus, tagein dienen, sich dem Gast unterordnen, uniformiert und in Verhaltensregeln eingezwängt, vom Wohlwollen des Gastes und seinem Trinkgeld abhängig sind. Je weniger die Menschen im Alltag ihre Individualität ausleben können, desto rolexiger sind sie. Sie müssen eben irgendwie zeigen, dass sie etwas wert sind. Und für einen Kellner ist der Platz am Handgelenk eine Lücke in der Uniform, die bei jedem Essen, das er aufträgt, im Sichtfeld des Gastes ist. Darum tragen die meisten Kellner ihre Uhr auch am rechten Arm, wenn sie Rechtshänder sind, das erhöht die Sichtbarkeit. Achten Sie mal drauf …
Übrigens heißt das nicht, dass ich auf Kellner abschätzig herabschaue – im Gegenteil: mit Hingabe dienen, das ist ein wundervoller, schöner Beruf. Ach, und übrigens habe ich auch nichts gegen teure Uhren. Das sind genauso schöne Männerspielzeuge wie teure Autos. Solange man damit nicht versucht, ein geringes Selbstwertgefühl nach außen hin zu kompensieren, sondern einfach nur Spaß daran hat, freue ich mich mit jedem Luxusuhrenbesitzer.
Begeistern kann ich mich ja zum Beispiel für Jean-Claude Biver, dem ehemaligen Chef der Luxusuhrenmanufaktur Hublot in Genf. Das ist ein irrer Typ: Er saß jeden morgen um 5 Uhr am Schreibtisch und arbeitete wie ein Besessener. Seinen Mitarbeitern gab er alle Freiheiten, er erwartete einzig, dass sie ebenfalls wie Besessene arbeiten. Wunderbar verrückt! Den Verrückten, denjenigen, die dadurch aus dem Mittelmaß herausragen: Ihnen gehört die Zukunft.
Es braucht immer eine Portion Chaos, damit Neues entsteht.
So etwas Verrücktes muss sich doch auch irgendwie umsetzen lassen, provozieren lassen, sich sofort in die Köpfe neuer Mitarbeiterimplementieren lassen. Hierzu brauchen wir viel mehr Ideen. Ideen wie jene, bei der jeder neue Mitarbeiter nach erfolgreichem Abschluss seiner Probezeit beispielsweise – je nach Einkommenshöhe – 3 000 Euro bar auf den Tisch gelegt bekommt. Mit der Wahl, das Unternehmen sofort mit einem Bonus von 3 000 Euro in der Tasche zu verlassen – oder ohne diesen Bonus weiterzuarbeiten. Wer das Geld nimmt, ist für das Unternehmen sowieso eine schlechte Wahl und seine Entscheidung damit für das Unternehmen langfristig gesehen eine sehr kostengünstige Lösung. Eine kleine, verrückte, verwirrende Idee, den Erfolg vom Zufall zu befreien. Und genau das ist der Grund, warum ich die Freiheit vorziehe und dafür sogar bereit bin, Sicherheit aufzugeben: Freiheit ist verwirrend. Verwirrung ist das genaue Gegenteil von Sicherheit. Verwirrung ist unser bester Zustand!
Anscheinend braucht es einen hohen Grad an Verwirrung, um den Mut zu entwickeln, etwas Neues in die Welt zubringen, voranzuschreiten und zu machen, statt zu warten, was passiert. Es braucht immer eine Portion Chaos, damit Neues entsteht, das gilt beispielsweise für Firmen. Steigt der Ordnungsgrad und damit die Bürokratie, dann verringert sich die Innovationskraft von Unternehmen, und alles bleibt, wie es war. Und plötzlich ist ein Unternehmen ein System, das seiner eigenen Logik folgt und von Tradition und Trägheit geprägt ist. In diesem System spricht alles für bewährte Vorgehensweisen und alles dagegen, Risiken einzugehen und neue Wege einzuschlagen.
Haben wir Chaos im Kopf, bilden wir neue Synapsen. Der Zustand größter Verwirrung, den wir Verliebtheit nennen, ist beispielsweise der, in dem wir so aufnahmebereit für Neues sind, dass sich dem verliebten Paar »unser Lied« förmlich ins Gedächtnis brennt. Noch 50 Jahre später bei der Goldenen Hochzeit erinnern sie sich gemeinsam an den Moment, als sie »unser Lied« zum ersten Mal gemeinsam gehört hatten und zu ihrem persönlichen Musikstück als Symbol ihrer Liebe erkoren haben. Das geht nur im Zustand totaler Verwirrung. Später, als der graue Alltagder Ehe Einzug gehalten hat, legte sich die Verwirrung und machte Sicherheit Platz, aber es gab auch keine neuen »unsere Lieder« mehr.
Verwirrung bringt Instabilität, Instabilität bringt
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