Schau Dich Nicht Um
Zentimeter lang. Und er habe es ja nur zum Spaß herausgezogen. Er habe den Eindruck gehabt, daß es sie errege, hat er Ihnen erzählt. Er glaubte, ihr gefiele das. Woher hätte er wissen sollen, daß es ihr nicht gefiel? Woher hätte er wissen sollen, daß sie nicht das gleiche wollte wie er? Woher hätte er wissen sollen, was sie wollte? War sie nicht schließlich in die Kneipe gekommen, weil sie einen Mann suchte? Hatte sie sich nicht von ihm einladen lassen? Hatte sie nicht über seine Witze gelacht und sich von ihm küssen lassen? Und vergessen Sie nicht, meine Damen und Herren, sie hatte keinen Schlüpfer an!«
Jess holte einmal tief Atem und richtete ihren Blick wieder auf die Geschworenen, die ihr jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörten.
»Die Verteidigung hat die Tatsache, daß Erica Barnowski keine Unterwäsche trug, als sie an jenem Abend in das Red Rooster ging, ungeheuer hochgespielt. Eine eindeutige Aufforderung, möchte sie Sie glauben machen. Stillschweigendes Einverständnis. Einer Frau, die ohne Höschen in eine Aufreißerkneipe geht, geschieht nur recht, wenn ihr das Schlimmste widerfährt. Erica Barnowski wollte etwas erleben, behauptet die Verteidigung, und der Wunsch ist ihr erfüllt worden. Na schön, kann sein, daß das Erlebnis ein bißchen krasser war, als sie es sich vorgestellt hatte, aber hey, das hätte sie doch besser wissen müssen.
Gut, vielleicht hätte sie es tatsächlich besser wissen müssen. Vielleicht war es wirklich nicht sehr klug von Erica Barnowski, in eine Kneipe wie das Red Rooster zu gehen und ihren Schlüpfer zu Hause zu lassen. Aber glauben Sie doch bitte ja nicht, daß mangelnde Klugheit des einen einem anderen das Recht gibt, seine Menschenwürde mit Füßen zu treten. Glauben Sie ja nicht, daß Douglas Phillips die Signale mißverstanden hat. Lassen Sie sich nicht einreden, daß dieser Mann, der von Berufs wegen Computer repariert, der keinerlei Schwierigkeiten hat, komplizierte Softwareterminologie zu dechiffrieren, unfähig ist, zwischen einem einfachen Ja und Nein zu unterscheiden. Was an einem Nein ist für einen erwachsenen Mann so schwer zu verstehen? Nein heißt schlicht und einfach Nein!
Und Erica Barnowski hat an jenem Abend laut und deutlich Nein gesagt, meine Damen und Herren. Sie hat Nein nicht nur gesagt, sondern sie hat Nein geschrien. Sie hat es so laut und so oft geschrien, daß Douglas Phillips ihr ein Messer an die Kehle halten mußte, um sie zum Schweigen zu bringen.«
Jess merkte plötzlich, daß sie ihre Worte insbesondere an eine Geschworene richtete, die in der zweiten Reihe saß, eine Frau Ende
Fünfzig mit kastanienbraunem Haar und kräftigen, dennoch seltsam zarten Zügen. Es war etwas am Gesicht dieser Frau, das sie faszinierte. Sie war schon zu Beginn des Prozesses auf sie aufmerksam geworden und hatte sich bereits früher gelegentlich dabei ertappt, daß sie das Wort beinahe ausschließlich an sie richtete. Vielleicht lag es an der Intelligenz, die sich in den weichen grauen Augen spiegelte. Vielleicht lag es an der Art, wie sie den Kopf leicht zur Seite zu neigen pflegte, wenn sie sich bemühte, einen schwierigen Punkt zu erfassen. Vielleicht lag es auch einfach an der Tatsache, daß sie besser gekleidet war als die meisten anderen Geschworenen, von denen mehrere Bluejeans anhatten und billige, schlecht sitzende Pullover. Oder vielleicht lag es daran, daß Jess das Gefühl hatte, zu dieser Frau durchzudringen, und hoffte, über sie auch die anderen zu erreichen.
»Es liegt mir fern zu behaupten, ich würde mich auskennen, was Männer angeht«, fuhr Jess fort und hörte das Lachen ihrer inneren Stimme, »aber es fällt mir ausgesprochen schwer zu glauben, daß ein Mann, der einer Frau ein Messer an die Halsschlagader halten muß, ehrlich davon überzeugt ist, sie wolle mit ihm schlafen.« Jess machte eine Pause und sprach ihre nächsten Worte mit sorgfältiger Betonung. »Ich behaupte hingegen, daß selbst in unserem angeblich so aufgeklärten Zeitalter die doppelte Moral blüht und gedeiht, jedenfalls hier, in Cook County. Der beste Beweis dafür ist das Bemühen der Verteidigung, Ihnen einzureden, daß Erica Barnowskis Versäumnis, an jenem Abend Unterwäsche zu tragen, weit verwerflicher sei als die Tatsache, daß Douglas Phillips ihr ein Messer an die Kehle hielt.«
Wieder ließ Jess ihren Blick langsam von einem Geschworenen zum anderen wandern. »Douglas Phillips«, fuhr sie dann fort, »behauptet, er habe geglaubt,
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