Schau Dich Nicht Um
haben, einem Bekannten. Vielleicht, wie Erica Barnowski«, sagte sie, mit dem Kopf auf die Klägerin deutend, »von einem Mann, den sie in einer Bar kennengelernt haben. Es trifft Frauen jeden Alters und jeder Hautfarbe, jeder Konfession und jeder Bildungsstufe. Das einzige, was sie alle gemeinsam haben, ist ihr Geschlecht. Es geht also um Sexualität, sollte man meinen, aber so ist es nicht. Bei der Vergewaltigung geht es nicht um Sexualität. Vergewaltigung ist ein Gewaltverbrechen. Da geht es nicht um Leidenschaft, nicht einmal um Lust. Es geht um Macht. Es geht um Herrschaft und Unterdrükkung. Um Erniedrigung. Um das Zufügen von Schmerz. Die Vergewaltigung ist ein Akt der Wut, ein Akt des Hasses. Mit Sexualität hat sie nichts zu tun. Die Sexualität benutzt sie nur als Waffe.«
Jess sah sich in dem ehrwürdigen alten Gerichtssaal um, ließ ihren Blick zur hohen Decke und den hohen Fenstern schweifen, über die dunkle Holztäfelung an den Wänden, die schwarze Marmorumrandung der großen Flügeltüren. Rechts vom Richter verbot über einer
Tür ein Schild alle Besucher im Gerichtssaal und Zellentrakt. Linker Hand verkündete ein zweites Schild: »Ruhe! Rauchen, Essen, das Mitbringen von Kindern verboten!«
Der Zuschauerraum mit den acht Sitzreihen, deren Holz von Graffiti zerkratzt war, hatte einen alten schwarz-weißen Fliesenboden. Genau wie im Film, dachte Jess, froh und dankbar, daß sie seit achtzehn Monaten der Kammer von Richter Harris zugeteilt war und nicht einer der anderen Kammern, zu denen die kleineren, neueren Säle in den unteren Stockwerken gehörten.
»Die Verteidigung möchte Sie etwas anderes glauben machen«, fuhr Jess fort und nahm ganz bewußt mit jedem einzelnen Geschworenen Blickkontakt auf, ehe sie ihre Aufmerksamkeit langsam auf den Angeklagten richtete. Douglas Phillips, weißer Mittelstand, ein Durchschnittstyp, recht ehrbar aussehend in seinem dunkelblauen Anzug mit der gedeckten Paisley-Krawatte, verzog beleidigt den Mund, ehe er den Blick zu Boden senkte. »Die Verteidigung möchte Sie glauben machen, daß das, was sich zwischen Douglas Phillips und Erica Barnowski abspielte, ein Geschlechtsakt war, der mit dem Einverständnis der Klägerin vollzogen wurde. Die Verteidigung hat Ihnen berichtet, daß Douglas Phillips Erica Barnowski am Abend des dreizehnten Mai 1992 in der Singles-Bar Red Rooster kennenlernte und sie zu mehreren Drinks einlud. Wir haben mehrere Zeugen gehört, die aussagten, die beiden zusammen gesehen zu haben, trinkend und lachend, wie sie sagten, und die unter Eid bezeugt haben, daß Erica Barnowski aus freien Stücken und ganz ohne Zwang die Bar gemeinsam mit Douglas Phillips verließ. Erica Barnowski selbst hat das bei ihrer Vernehmung zugegeben.
Aber die Verteidigung möchte Sie nun weiter glauben machen, daß das, was sich zwischen den beiden zutrug, nachdem sie die Bar verlassen hatten, ein Akt überwältigender Leidenschaft zwischen zwei erwachsenen Menschen war. Douglas Phillips behauptet, die Blutergüsse an Armen und Beinen der Klägerin seien die bedauerlichen
Nebenwirkungen des Geschlechtsverkehrs in einem kleinen Auto europäischer Herkunft. Die nachfolgende Hysterie des Opfers, die von mehreren Leuten auf dem Parkplatz wahrgenommen und später von Dr. Robert Ives im Grant Hospital beobachtet wurde, tut er schlicht als Tobsuchtsanfall einer Frau ab, der es nicht paßte, nach Gebrauch weggeworfen zu werden wie - in seinen einfühlsamen Worten - ›ein benutztes Kleenex‹.«
Jess konzentrierte jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit auf Erica Barnowski, die neben Neil Strayhorn am Tisch der Staatsanwaltschaft saß, der Geschworenenbank direkt gegenüber. Erica Barnowski war siebenundzwanzig Jahre alt, sie war sehr blaß und sehr blond und saß völlig unbewegt in dem braunen Ledersessel mit der hohen Lehne. Nur ihre Unterlippe bewegte sich, sie hatte während des ganzen Prozesses unaufhörlich gezittert, so daß ihre Zeugenaussage bisweilen beinahe unverständlich gewesen war. Dennoch hatte die Frau kaum etwas Weiches an sich. Das Haar war zu gelb, die Augen waren zu klein, die Bluse zu blau, zu billig. Sie hatte nichts Mitleiderregendes an sich, nichts, das war Jess klar, was den Geschworenen automatisch ans Herz gegangen wäre.
»Die Schnitte an der Kehle der Klägerin zu erklären, bereitete ihm etwas mehr Mühe«, fuhr Jess fort. »Er habe sie nicht verletzen wollen, behauptet er jetzt. Es sei ja nur ein kleines Messer gewesen, gerade einmal zehn
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