Schau Dich Nicht Um
niemals etwas Ähnliches widerfahren würde. Sie würden schließlich niemals so leichtsinnig sein, nach Einbruch der Dunkelheit allein durch den Park zu gehen, sich von einem flüchtigen Bekannten im Auto mitnehmen zu lassen, sich in einer Bar von einem Fremden ansprechen zu lassen, ohne Schlüpfer herumzulaufen. Nein, dazu waren sie zu klug. Sich der Gefahren allzusehr bewußt. Sie würden niemals vergewaltigt werden. Sie würden sich ganz einfach niemals in eine so riskante Situation begeben.
Die Geschworene wurde auf Jess’ forschend auf sie gerichteten Blick aufmerksam und wandte sich verlegen ab. Sie straffte ihre Schultern und stand kurz von ihrem Sitz auf, ehe sie es sich wieder bequem machte und ihren Blick auf den Richter konzentrierte. Im Profil wirkte die Frau imposanter, ihre Nase wirkte schärfer, die einzelnen Gesichtszüge stärker ausgeprägt. Sie hatte etwas Vertrautes, das Jess vorher nicht aufgefallen war; die Art, wie sie sich hin und wieder mit einem Finger leicht auf die Lippen klopfte; die Wölbung ihres Nackens, wenn sie sich bei gewissen Schlüsselsätzen vorbeugte, die schräge Fläche ihrer Stirn; die schmalen Augenbrauen. Jess wurde sich plötzlich bewußt, daß die Frau sie an jemanden erinnerte, und sofort versuchte sie, die Gedanken auszublenden, die sich formen wollten, versuchte, das Bild zu verbannen, das sich entfalten wollte. Nein, kommt nicht in Frage, dachte Jess, während ihr Blick gehetzt durch den Gerichtssaal flog und sie in Armen und Beinen das gefürchtete Kribbeln spürte. Sie kämpfte gegen den Impuls zu fliehen.
Beruhige dich doch, fuhr sie sich im stillen ungeduldig an, als sie fühlte, wie es ihr den Atem abschnürte, ihre Hände klamm wurden, ihre Unterarme feucht. Warum gerade jetzt? fragte sie sich, während sie gegen die wachsende Panik kämpfte und versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen. Warum geschah ihr das gerade jetzt?
Sie zwang sich, wieder die Geschworene anzusehen, die vorgebeugt in ihrem Sessel saß. Als spürte sie Jess’ neuerliches Interesse und sei fest entschlossen, sich davon nicht einschüchtern zu lassen, drehte die Frau sich halb herum und sah ihr direkt in die Augen.
Jess wich dem Blick der Frau nicht aus, sondern erwiderte ihn, bis die Frau wegsah. Dann schloß sie voller Erleichterung die Augen. Was hatte sie da nur gesehen? Sie spürte, wie die Muskeln in ihrem Rücken sich entspannten. Wodurch konnte eine solche Assoziation ausgelöst worden sein? Die Frau besaß keinerlei Ähnlichkeit mit irgend jemand, den sie kannte oder je gekannt hatte. Ganz gewiß nicht mit der Frau, die sie flüchtig in ihr zu sehen gemeint hatte. Jess fand sich töricht und schämte sich ein wenig.
Nein, da war nicht einmal die entfernteste Ähnlichkeit mit ihrer Mutter.
Jess senkte den Kopf, so daß ihr Kinn beinahe im Kragen ihrer Bluse verschwand. Acht Jahre waren vergangen, seit ihre Mutter verschwunden war. Acht Jahre, seit ihre Mutter aus dem Haus gegangen war, um einen Arzttermin einzuhalten, und nie wieder gesehen worden war. Acht Jahre, seit die Polizei die Suche nach ihr mit der Begründung aufgegeben hatte, sie sei vermutlich das Opfer eines Verbrechens geworden.
In den ersten Tagen, Monaten, selbst Jahren nach dem Verschwinden ihrer Mutter hatte Jess oft geglaubt, ihr Gesicht irgendwo in einer Menge gesehen zu haben. Es geschah immerzu: Sie war im Supermarkt und sah plötzlich ihre Mutter, die einen überquellenden Einkaufswagen den Nachbargang hinunterschob; sie war bei einem Baseballspiel und hörte plötzlich die Stimme ihrer
Mutter, die, drüben auf der anderen Seite des Wrigley Field sitzend, die Chicago Cubs anfeuerte. Ihre Mutter war die Frau hinter der Zeitung hinten im Bus; die Frau vorn im Taxi, das in der entgegengesetzten Richtung fuhr, die Frau, die mit ihrem Hund unten am Seeufer um die Wette joggte.
Im Laufe der Jahre waren diese Erscheinungen seltener geworden. Aber lange Zeit hatte Jess unter Alpträumen und Angstanfällen gelitten, die sie ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel zu packen pflegten, so bösartig und gewaltsam, daß sie sie allen Gefühls in ihren Gliedern, aller Kraft in ihren Muskeln beraubten. Im allgemeinen begannen sie mit einem leichten Kribbeln in Armen und Beinen und entwickelten sich dann zu einer richtiggehenden Lähmung, die von Wellen von Übelkeit begleitet wurde. Und wenn sie vorüber waren - manchmal nach Minuten, manchmal erst nach Stunden -, war sie völlig erschöpft, ausgelaugt, ein in Schweiß
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