Schau Dich Nicht Um
gebadetes Häufchen Elend.
Ganz langsam und unter Mühen, wie jemand, der nach einem Schlaganfall das Laufen wieder lernt, hatte Jess ihr inneres Gleichgewicht, ihr Selbstvertrauen, ihre Selbstachtung wiedergewonnen. Sie erwartete nicht mehr, daß ihre Mutter plötzlich zur Tür hereinkommen würde; fuhr nicht mehr jedesmal zusammen, wenn das Telefon läutete, weil sie erwartete, die Stimme am anderen Ende würde die ihrer Mutter sein. Die Alpträume hatten aufgehört. Sie hatte keine Panikattacken mehr. Jess hatte sich geschworen, sich nie wieder in solchem Maß auszuliefern.
Und nun hatte das vertraute, gefürchtete Kribbeln von neuem ihre Glieder befallen.
Warum gerade jetzt? Warum gerade heute?
Sie wußte, warum.
Rick Ferguson.
Jess beobachtete, wie er die Tür zu ihrem Gedächtnis aufstieß; sein grausames Lächeln umfing sie wie eine Schlinge um ihren Hals.
»Es ist keine gute Idee, mir auf die Zehen zu treten«, hörte sie ihn sagen; seine Stimme klang belegt, seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Leute, die mir in die Quere kommen, neigen dazu... zu verschwinden.«
Verschwinden.
Wie ihre Mutter.
Jess versuchte, sich zu sammeln, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das zu richten, was Richter Harris sagte. Aber Rick Ferguson schob sich immer wieder zwischen sie und den Richter, und seine braunen Augen reizten sie mit höhnischem Blick, ihn doch nur herauszufordern.
Was ist das nur zwischen mir und Männern mit braunen Augen? fragte sich Jess, die plötzlich eine Collage aus braunäugigen Männergesichtern vor sich sah: Rick Ferguson, Greg Oliver, ihr Vater, ihr geschiedener Mann.
Das Bild ihres geschiedenen Mannes drängte die anderen Gesichter rasch in den Hintergrund. Wie typisch für Don, dachte sie, selbst wenn er nicht da war, so dominant zu sein, daß niemand neben ihm Platz hatte. Er war, elf Jahre älter als sie, ihr Mentor, ihr Geliebter, ihr Förderer und ihr Freund gewesen. Er wird dir keinen Raum zur Entfaltung lassen, hatte ihre Mutter gewarnt, als Jess damit herausgerückt war, daß sie beabsichtigte, diesen ungeheuer von sich überzeugten Mann zu heiraten, der im ersten Jahr ihres Studiums ihr Dozent gewesen war. Sieh dich doch erst mal um , hatte ihre Mutter gebeten. Es eilt doch nicht. Aber je mehr Einwände ihre Mutter vorgebracht hatte, desto mehr Entschlossenheit hatte Jess, die rebellische Tochter, an den Tag gelegt, bis am Ende die Opposition gegen ihre Mutter zum stärksten Band zwischen ihr und Don geworden war. Sie heirateten sehr bald nach dem Verschwinden von Jess’ Mutter.
Von Anfang an hatte Don in ihrer Ehe das Sagen. In den vier Jahren ihres Zusammenlebens bestimmte er alle ihre Unternehmungen;
er suchte die Wohnung aus, in der sie lebten, die Möbel, mit denen sie sich einrichteten, er bestimmte, mit wem sie verkehrten, was sie unternahmen, ja, selbst was sie aß, wie sie sich kleidete.
Vielleicht war es ihre Schuld gewesen. Vielleicht hatte sie in den Jahren unmittelbar nach dem Verschwinden ihrer Mutter genau das gewollt und gebraucht: jemanden, der ihr alle Entscheidungen abnahm, sie umsorgte und verwöhnte. Vielleicht hatte sie die Möglichkeit gebraucht, selbst in einem anderen zu verschwinden.
Anfangs hatte Jess nichts dagegen gehabt, daß Don ihr Leben in die Hand nahm. Er wußte, was für sie am besten war. Er meinte es gut. Er war immer für sie da, trocknete ihre Tränen, half ihr über die schrecklichen Panikanfälle hinweg. Wie hätte sie ohne ihn überleben können?
Aber dann hatte sie in zunehmendem Maß, vielleicht sogar ohne bewußte Absicht, versucht, sich selbst zu behaupten; sie fing an, sich mit ihm zu streiten, trug plötzlich Farben, von denen sie wußte, daß er sie nicht mochte, stopfte sich, kurz bevor er sie in sein Lieblingsrestaurant führte, mit Süßigkeiten und Chips voll, weigerte sich, seine Freunde zu treffen, bewarb sich um einen Posten bei der Staatsanwaltschaft, anstatt zu Don in die Kanzlei zu gehen, zog schließlich aus der gemeinsamen Wohnung aus.
Jetzt wohnte sie in der obersten Etage eines dreistöckigen Stadthauses in einem alten Viertel und nicht im Penthaus eines Wolkenkratzers im Zentrum, und ihr bester Freund war, abgesehen von ihrer Schwester, ein leuchtend gelber Kanarienvogel namens Fred. Und wenn sie auch nicht mehr das unbeschwerte junge Ding war, das sie vor dem Verschwinden ihrer Mutter gewesen war, so war sie doch wenigstens auch nicht mehr die Kranke, zu der sie sich während ihrer Ehe mit Don hatte reduzieren
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