Schau Dich Nicht Um
Erica Barnowski sei einverstanden und wolle den Geschlechtsverkehr genau wie er. Aber ist es nicht Zeit, daß wir aufhören, die Vergewaltigung aus der Perspektive des Täters zu sehen? Ist es nicht Zeit, daß wir aufhören zu akzeptieren,
was Männer glauben , und endlich anfangen, auf das zu hören, was Frauen sagen? Einvernehmen ist keine einseitige Sache, meine Damen und Herren. Einvernehmen erfordert beiderseitige Zustimmung. Das, was am Abend des dreizehnten Mai zwischen Erica Barnowski und Douglas Phillips geschah, geschah entschieden nicht in beiderseitigem Einvernehmen.
Erica Barnowski mag einer Fehleinschätzung der Lage schuldig sein«, sagte Jess abschließend. »Douglas Phillips ist der Vergewaltigung schuldig.«
Sie kehrte an ihren Platz zurück und tätschelte Erica Barnowski flüchtig die überraschend warmen Hände. Die junge Frau dankte ihr mit einem kurzen Lächeln.
»Gut gemacht«, flüsterte Neil Strayhorn.
Vom Verteidigungstisch kam kein solches Lob; dort saßen Douglas Phillips und seine Anwältin, Rosemary Michaud, kerzengerade, den Blick starr geradeaus gerichtet.
Rosemary Michaud war fünf Jahre älter als Jess, hätte aber ihrem Aussehen nach gut um das Doppelte älter sein können. Sie trug das dunkelbraune Haar in einem strengen Knoten, und wenn sie geschminkt war, dann so dezent, daß es nicht zu bemerken war. Jess fühlte sich jedesmal, wenn sie sie sah, an das Stereotyp der alten Jungfer erinnert, obwohl diese alte Jungfer dreimal verheiratet gewesen war und derzeit, so wurde gemunkelt, eine Affäre mit einem hohen Polizeibeamten hatte. Aber wie im Leben, so zählte im Gerichtssaal weniger das, was war, als das, was wahrgenommen wurde. Image war alles, wie in der Werbung behauptet wurde. Und Rosemary Michaud, in ihrem konservativen blauen Kostüm, mit dem ungeschminkten Gesicht und der schlichten Frisur, vermittelte genau das Bild einer Frau, die einen Mann, den sie einer so niedrigen Tat wie einer Vergewaltigung für schuldig hielt, niemals verteidigen würde. Es war von Douglas Phillips ein kluger Schachzug gewesen, ihr seine Verteidigung anzuvertrauen.
Rosemary Michauds Motive, Douglas Phillips’ Mandat zu übernehmen, waren schwerer zu ergründen, wobei Jess natürlich völlig klar war, daß es nicht Aufgabe des Anwalts war, Schuld oder Unschuld festzustellen. Dafür gab es die Geschworenen. Wie oft hatte sie das Argument gehört, hatte sie selbst das Argument vorgebracht, daß die Justiz einpacken könnte, wenn Anwälte begännen, sich als Richter und Geschworene aufzuspielen. Es war schließlich von der Unschuldsvermutung auszugehen; jeder hatte ein Recht auf bestmögliche Verteidigung.
Richter Earl Harris räusperte sich zum Zeichen, daß er sich anschickte, die Geschworenen zu belehren. Er war ein gutaussehender Mann Ende Sechzig, ein Schwarzer mit bronzebrauner Haut und krausem grauen Haar. Die Güte seines Gesichts, der weiche Glanz seiner dunklen Augen betonten die Ernsthaftigkeit seines Engagements für Recht und Gerechtigkeit.
»Meine Damen und Herren Geschworenen«, begann er und schaffte es irgendwie, selbst diese Worte frisch und lebendig klingen zu lassen, »ich möchte Ihnen für die Aufmerksamkeit und den Respekt danken, die Sie diesem Gericht in den vergangenen Tagen gezeigt haben. Fälle wie dieser sind niemals einfach zu behandeln. Die Emotionen schlagen da hohe Wellen. Aber Ihre Pflicht als Geschworene ist es, Ihre Emotionen auszuklammern und sich einzig auf die Fakten zu konzentrieren.«
Jess konzentrierte sich weniger auf die Worte des Richters als auf die Reaktion der Geschworenen auf sie. Alle saßen sie vorgebeugt auf ihren braunen Lederstühlen und hörten aufmerksam zu.
Welcher Auffassung würden sie sich anschließen, fragte sie sich, wohl wissend, wie schwierig es war, die Reaktionen der Geschworenen zu deuten, ihre Entscheidungen vorauszusagen. Als sie vor vier Jahren bei der Staatsanwaltschaft angefangen hatte, hatte sie kaum glauben können, daß sie sich in ihren Beurteilungen so oft und so gründlich irren konnte.
Die Geschworene mit den intelligenten Augen hustete hinter vorgehaltener Hand. Jess wußte, daß in Vergewaltigungsprozessen die Frauen unter den Geschworenen oft schwerer zu überzeugen waren als die Männer. Dahinter steckte wahrscheinlich ein Verleugnungsmechanismus. Wenn die Frauen sich einreden konnten, daß das Opfer das, was geschehen war, selbst verschuldet hatte, konnten sie sich beruhigt sagen, daß ihnen selbst
Weitere Kostenlose Bücher