Schau Dich Nicht Um
Frau.
Der Mann stand am gegenüberliegenden Ende des Korridors, lässig an die kalte Glaswand gelehnt. Die Haltung seines schlaksigen mageren Körpers hatte etwas Bedrohliches. Sein Gesicht war teilweise von den langen ungekämmten Strähnen dunkelblonden Haars verdeckt, die auf den Kragen seiner braunen Lederjacke herabfielen. Als er sich langsam herumdrehte, um sie zu grüßen, sah Jess, wie sein Mund sich zu dem gleichen beklemmenden Lächeln verzog, mit dem er an diesem Morgen auf sie gewartet hatte.
Ich bin der Tod , sagte es.
Jess fröstelte unwillkürlich und versuchte dann so zu tun, als käme es von dem kalten Windstoß, der durch die Drehtür ins Foyer fegte.
Rick Ferguson.
»Ich möchte, daß Sie ein Taxi nehmen, Connie«, sagte sie auf dem Weg zur California Avenue hinaus, wo gerade eines vorgefahren war und jemanden absetzte. Sie drückte Connie zehn Dollar in die Hand. »Ich kümmere mich schon um Rick Ferguson.«
Connie sagte nichts. Es war, als hätte sie ihre ganze Energie bei dem Gespräch mit Jess verbraucht und hätte jetzt keine Kraft mehr zu widersprechen. Die Zehn-Dollar-Note in der zur Faust geballten Hand, ließ sie sich von Jess in das Taxi schieben und warf keinen Blick zurück, als der Wagen anfuhr. Jess blieb noch einen Moment auf dem Bürgersteig stehen und versuchte innerlich zur Ruhe zu kommen, dann machte sie kehrt und ging durch die Drehtür wieder ins Gebäude.
Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.
Durch den langen Flur ging Jess auf ihn zu. Die Absätze ihrer schwarzen Pumps klapperten auf dem harten Granitboden. Mit jedem Schritt, den sie machte, bekam sie seine Gesichtszüge schärfer in den Blick. Die vage Drohung, die von ihm ausging - ein junger Weißer Anfang Zwanzig, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, blondes Haar, braune Augen -,
wurde konkreter, persönlicher - leicht nach vorn gebeugte Schultern, ungepflegtes langes Haar, stechende Augen unter schweren Lidern, eine mehrmals gebrochene Nase, die niemals richtig behandelt worden war, und immer dasselbe schreckliche Lächeln.
»Ich verbiete Ihnen, sich Mrs. DeVuono zu nähern«, sagte Jess mit scharfer Stimme, als sie ihn erreichte, und fuhr zu sprechen fort, ehe er sie unterbrechen konnte. »Wenn Sie sich noch einmal in ihrer Nähe blicken lassen, und sei es nur rein zufällig, wenn Sie versuchen sollten, mit ihr zu sprechen oder auf andere Weise mit ihr Verbindung aufzunehmen, wenn Sie es noch einmal wagen sollten, ihr so ein grausiges kleines Geschenk vor die Tür zu legen, lasse ich Ihre Haftverschonung aufheben. Dann finden Sie Ihren Arsch im Knast wieder. Haben Sie mich verstanden?«
»Wissen Sie eigentlich«, sagte er sehr lässig und ohne Eile, so als befände er sich mitten in einem ganz anderen Gespräch, »daß es keine gute Idee ist, mir auf die Zehen zu treten.«
Jess hätte beinahe gelacht. »Was soll das heißen?«
Rick Ferguson verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, zuckte die Achseln, machte ein gelangweiltes Gesicht. Er sah sich um, kratzte sich bedächtig an der Nase. »Na ja, Leute, die mir in die Quere kommen, neigen dazu... zu verschwinden.«
Jess wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ein eisiger Schauder durchfuhr sie und schien sich in ihrem Magen festzusetzen. Einen Moment wurde ihr so übel, daß sie sich beinahe übergeben hätte. Als sie sprach, klang ihre Stimme dumpf und tonlos.
»Wollen Sie mir drohen?«
Rick Ferguson stieß sich von der Wand ab. Sein Lächeln wurde breiter. Ich bin der Tod , sagte das Lächeln. Ich bin gekommen, dich zu holen.
Dann ging er davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
2
J eden Tag werden in den Vereinigten Staaten 1871 Frauen vergewaltigt«, begann Jess. Ihr Blick glitt langsam über die sechs Männer und sechs Frauen hin, die in zwei Reihen in der Geschworenenbank im Gerichtssaal 706 des State Court House in der California Avenue saßen. »Das heißt, daß etwa alle 46 Sekunden eine erwachsene Frau vergewaltigt wird, was sich im Laufe eines Jahres zu 683000 Vergewaltigungen summiert.« Sie machte eine kurze Pause, um die ungeheuerliche Zahl wirken zu lassen. »Manche Frauen werden auf der Straße überfallen; andere in der eigenen Wohnung. Manchen wird von dem viel zitierten Wildfremden in einer dunklen Gasse Gewalt angetan, weit häufiger jedoch werden Frauen von Menschen vergewaltigt, die sie kennen: von einem wütenden abgewiesenen Verehrer, einem Freund, dem sie vertraut
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