Schau Dich Nicht Um
belastete. Sie würde wahrscheinlich einfach eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Wie die Mutter, so die Tochter, dachte sie. Irgendwie fand sie das Ironische ihrer Situation seltsam tröstlich.
Hinter Barry erschien jetzt ihr Vater an der Tür, und zum ersten Mal war Jess froh, daß er eine neue Frau gefunden hatte. Das würde es ihm leichter machen, wenn das Unvermeidliche geschah.
»Mensch, Jess«, rief Barry. »Kannst du vielleicht noch ein bißchen langsamer gehen? Mach, daß du reinkommst. Es ist eiskalt hier draußen.«
Wie um ihn zu bestätigen, fegte vom Wasser her ein kalter Windstoß durch den Garten und schüttelte die nackten Äste der Bäume. Jess sah die blauen Lämpchen, mit denen die kleinen immergrünen Büsche vor dem Haus geschmückt waren, und fragte sich, ob sie von der Kälte blau geworden waren. Sie wirkten bedrückend, traurig. In der Mitte der Haustür hing ein grüner Papierkranz mit einer großen roten Schleife.
»Tyler hat ihn im Kindergarten gemacht«, sagte Barry stolz, als Jess mit einem Gefühl, als hingen ihr Bleigewichte an den Füßen, die Treppe hinaufging. »Woher hast du den Wagen?«
»Den hab ich heute nachmittag gemietet«, erklärte Jess. Sie trat ins Haus und ließ sich von ihrem Vater in die Arme nehmen. »Hallo, Daddy.«
»Hallo, Kind. Laß dich ansehen.« Er schob sie auf Armeslänge von sich ab, ohne sie loszulassen, zog sie dann wieder in seine Arme. »Du siehst prächtig aus.«
»Was für ein Wagen ist das?« fragte Barry.
»Ein Toyota«, antwortete Jess, froh, ein so banales Gesprächsthema zu haben.
»Du solltest kein japanisches Auto fahren«, schalt Barry. Er half ihr aus dem Mantel und hängte ihn in den Schrank. Jess sah flüchtig einen schwarzen Nerz und fragte sich, da sie wußte, daß er nicht ihrer Schwester gehörte, wie Nerz und Birkenstocksandalen zusammenpaßten. »Die amerikanische Autoindustrie braucht unsere Unterstützung.«
»Darum fährst du einen Jaguar«, sagte Jess und stellte ihre Handtasche auf den Boden.
»Als nächstes kauf ich mir ein amerikanisches Auto«, versicherte Barry. »Ich hab an einen Cadillac gedacht.«
»Ein Cadillac ist ein guter Wagen«, sagte Art Koster mit einem flehentlichen Blick zu seiner Tochter, es dabei bewenden zu lassen.
Jess nickte. »Es tut mir leid, daß ich in letzter Zeit so viel zu tun hatte, Daddy«, entschuldigte sie sich, ihren Eintritt ins Wohnzimmer bewußt hinauszögernd.
»Das verstehe ich doch, Kind«, erwiderte ihr Vater, und Jess sah im teilnahmsvollen Blick seiner braunen Augen, daß er sie wirklich verstand.
»Es tut mir so leid, wenn ich dir weh getan habe«, sagte sie leise. »Du weißt, das ist das letzte, was ich möchte.«
»Natürlich weiß ich das. Und es ist völlig unwichtig. Jetzt bist du ja hier.«
»Seid mir nicht böse, aber ich habe total vergessen, etwas mitzubringen«, entschuldigte sich Jess von neuem, als sie Maureen in den Vorsaal kommen sah. Sie hielt einen der Säuglinge im Arm, und Tyler hing wie eine Klette an ihrem Rockzipfel. Die ganze Familie Peppler, stellte Jess fest, war in weihnachtliches Rot und Grün gekleidet. Maureen und das Baby trugen beinahe identische rote Samtkleider; Tyler und sein Vater waren mit dunkelgrünen Hosen, roten Pullovern mit V-Ausschnitt und breiten grünen Krawatten herausgeputzt. Sie sahen aus, als seien sie eben einer Weihnachtskarte entstiegen. Jess fühlte sich entschieden fehl am Platz in schwarz-weißem Pulli und schwarzer Hose.
»Ich bin so froh, daß du kommen konntest«, sagte Maureen mit feuchten Augen. »Ich hatte dauernd Angst, du würdest in der letzten Minute anrufen und -« Sie brach abrupt ab. »Komm mit rein.«
Art Koster legte seiner jüngeren Tochter den Arm um die Schulter und führte sie ins Wohnzimmer. Das erste, was Jess bemerkte, war die große Tanne, die, noch nicht geschmückt, vor dem Flügel stand. Als nächstes sah sie die Madonnengestalt, die auf dem rosenholzfarbenen Sofa saß und in den Armen ein Kind im roten Samtkleidchen hielt.
»Sherry«, sagte Art Koster und führte seine Tochter zum Sofa, »das ist meine jüngere Tochter, Jess. Jess, das ist Sherry Hasek.«
»Hallo, Jess«, sagte die Frau. Sie reichte das Kind an Jess’ Vater weiter und stand auf, um Jess die Hand zu geben. Sie war so schlank, wie ihr Vater sie beschrieben hatte, und noch kleiner, als Jess sich vorgestellt hatte. Ihr schwarzes Haar, das erstaunlich natürlich wirkte, war im Nacken mit einer glitzernden
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