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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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nötig, sie über die Vorlieben ihres eigenen Vaters aufzuklären?
    »Sherry ist ein bißchen zu bescheiden«, sagte ihr Vater, sich nun seinerseits anmaßend, für Sherry zu sprechen. Machten alle Liebespaare sich solcher Übergriffe schuldig? fragte sich Jess. »Sie ist wirklich begabt.«
    »Na ja«, sagte Sherry scheu, »Stilleben kann ich ganz gut.«
    »Ihre Pfirsiche sind zum Anbeißen«, konstatierte Art Koster augenzwinkernd.
    »Art!« rief Sherry lachend und griff an Jess vorbei, um Art Koster eins auf die Finger zu geben. Jess fühlte sich leicht angewidert. »Ihr Vater hat es mehr mit dem Aktzeichnen.«
    »Das kann ich mir denken«, sagte Barry.
    »Immer wieder biete ich ihr an, sie zu malen«, sagte Art und lächelte Sherry an, als wäre Jess gar nicht vorhanden. »Aber sie sagt, sie wartet auf Jeffrey Koons.«
    Wieder das glockenhelle Gelächter. Jess vermutete, sie hätte wissen müssen, wer Jeffrey Koons war, aber sie wußte es nicht. Sie lachte trotzdem, als wüßte sie es.
    Sie fragte sich, was ihre Mutter von dieser reizenden kleinen Familienszene gehalten hätte: Barry neben Maureen; den Arm um ihre Schulter, während sie Tyler in den Armen hielt; Jess eingequetscht auf dem Sofa zwischen ihrem Vater und der F,rau, die er gern nackt malen wollte; die Zwillinge in ihren Babywippen, mit großen Augen jede Bewegung ihrer Mutter verfolgend. Richtig so, warnte Jess sie schweigend, paßt nur auf eure Mutter auf, gebt acht, daß sie nicht verschwindet.

    »Erde an Jess«, hörte sie wieder. »Erde an Jess. Jess bitte kommen.«
    »Entschuldigt«, sagte Jess hastig, als sie Barrys unmutiges Gesicht sah. Als würde durch ihre Zerstreutheit sein Talent als Gastgeber in Zweifel gezogen. »Hast du etwas gesagt?«
    »Sherry hat gefragt, ob du gern malst.«
    »Oh. Tut mir leid, das hab ich gar nicht gehört.«
    »Das haben wir gemerkt«, sagte Barry, und Jess fing den beunruhigten Blick auf, der plötzlich Maureens Augen trübte.
    »Das ist doch nicht so wichtig«, beschwichtigte Sherry augenblicklich. »Ich hab nur Konversation gemacht.«
    »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich gern male oder nicht«, antwortete Jess. »Ich habe seit meiner Kindheit nicht mehr gemalt.«
    »Weißt du noch, wie du mal die Kreidestifte erwischt und sämtliche Wände im Wohnzimmer verschmiert hast«, sagte Maureen. »Mama war fuchsteufelswild, weil sie das Wohnzimmer gerade hatte streichen lassen.«
    »Nein, das weiß ich nicht mehr.«
    »Ich glaube, das werde ich nie vergessen«, sagte Maureen. »So laut hab ich Mama nie wieder brüllen hören.«
    »Sie hat nicht gebrüllt.«
    »Doch, an dem Tag schon. Man konnte sie meilenweit hören.«
    »Sie hat nie gebrüllt«, insistierte Jess.
    »Hast du nicht eben gesagt, daß du dich an den Zwischenfall nicht mehr erinnerst?« sagte Barry.
    »Aber ich denke, ich kann mich an meine eigene Mutter erinnern.«
    »Ich erinnere mich an viele Gelegenheiten, bei denen sie herumgeschrien hat«, sagte Maureen.
    Jess zuckte die Achseln und bemühte sich, ihren wachsenden Ärger zu verbergen. »Mich hat sie jedenfalls nie angeschrien.«
    »Gerade dich hat sie immer angeschrien.«

    Jess stand auf und ging zu der großen Tanne vor dem Flügel. »Wann schmücken wir den Baum?«
    »Wir haben uns gedacht, gleich nach dem Abendessen«, antwortete Barry.
    »Du konntest nie aufhören«, fuhr Maureen fort, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben. »Du mußtest immer das letzte Wort haben.« Sie lachte. »Ich weiß noch, wie Mama immer sagte, sie sei froh dich zu haben, weil es so angenehm sei, mit jemandem zusammenzuleben, der allwissend sei.«
    Alle lachten. Jess begann allmählich das Glockenspiel zu hassen.
    »Meine Söhne waren genauso«, stimmte Sherry zu. »Jeder von ihnen bildete sich ein, alles zu wissen. Als sie siebzehn waren, war ich in ihren Augen die dümmste Person auf der ganzen Welt. Und als sie einundzwanzig waren, konnten sie nicht glauben, wie klug ich plötzlich geworden war.«
    Wieder lachten alle.
    »Aber wir haben schon ein paar sehr harte Jahre durchgemacht«, bekannte Sherry. »Vor allem kurz nachdem ihr Vater gegangen war. Obwohl er ja vorher auch meistens durch Abwesenheit geglänzt hat. Aber als er dann endgültig ging, war es gewissermaßen amtlich, und die Jungen haben sich ganz schön abreagiert. Sie waren ungezogen und rebellisch, und ganz gleich, was ich gesagt oder getan habe, es war nie richtig. Andauernd gab es Streit. Ich brauchte nur ein Wort zu sagen, und schon ging

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