Schau Dich Nicht Um
plötzlich schien sich alles von selbst zu ordnen. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, dachte Jess, während sie weiter in Richtung Norden fuhr, weg von der Stadt, weg von ihren Problemen. Nicht etwa, daß die Zeit alles heilte, wie man allseits hörte. Aber sie hatte eben tatsächlich die Eigenschaft, einfach weiterzulaufen. Letztlich blieb einem nichts anderes übrig, als mitzulaufen. Und jetzt hatte ihr Vater sich verliebt.
Das Campus der Northwestern University tauchte plötzlich zu ihrer Rechten auf. Sie fuhr an dem Observatorium mit dem riesigen Teleskop vorbei, das in den Weltraum gerichtet war, an den Wohnheimen, der Studio-Bühne, dem Art-Center, den vom Regen durchweichten Tennisplätzen. Sie fuhr weiter, am Lighthouse Beach vorbei, und blickte durch den strömenden Regen zu dem alten Leuchtturm hinüber, der früher einmal die Schiffe vor gefährlichen Felsriffen gewarnt hatte. An der Central Street bog sie nach links ab und fuhr zur Ridge Road. Langsam kroch sie die steile Steigung hinauf, an der Haltestelle der Hochbahn vorbei, die, wie Barry behauptete, das Verbrechen in die Vororte trug, dann vorbei am Krankenhaus, dem städtischen Golfplatz und über die Brücke, die hier den Chicago River überspannte. Nachdem sie das Dyche-Stadion passiert hatte, wo das Football-Team der Northwestern University den Gastmannschaften die Punkte abzuliefern pflegte, erreichte sie schließlich das Evanston-Kinozentrum, alles in allem ein Weg von nicht einmal einer Meile.
Auf der Straße war alles vollgeparkt. Jess mußte einmal um den Block fahren, ehe sie eine Parklücke fand. Es war fast zehn Uhr. Die Pizzeria war fast leer, die Eisdiele verlassen. Nicht gerade ein Abend für Eiscreme, dachte sie und erinnerte sich des Geschmacks von Maureens Birnenmousse mit Himbeersauce.
Nein, sie würde jetzt nicht an Maureen denken. Sie sprang aus dem Wagen und lief zu den Kinos. Sie hatte keine Ahnung, welche
Filme gerade liefen. Es war ihr auch gleich. Lieber sich den größten Mist ansehen, als nach Hause zu fahren und den Enthüllungen des Abends ins Auge sehen zu müssen. Ihre Schwester hatte ein Recht auf ihr eigenes Leben und ebenso ihr Vater. Dieselbe Freiheit, die sie in Anspruch genommen hatte, ihr Leben so zu führen, wie sie es für richtig hielt, mußte sie auch ihnen zugestehen.
»Welches Kino?« fragte das junge Mädchen an der Kasse, als Jess ihr Geld hinlegte.
Jess versuchte, sich auf die Liste von Filmen zu konzentrieren, die hinter dem Mädchen hing, aber die Titel verschwammen und verwischten sich, wurden unleserlich, ehe ihr Gehirn sie registrieren konnte.
»Das ist mir gleich«, sagte sie zu dem Mädchen. »Geben Sie mir einfach eine Karte für den Film, der als nächstes anfängt.«
»Sie haben alle schon angefangen.« Das Mädchen schaffte es, gelangweilt und verwundert zugleich auszusehen.
»Dann suchen Sie eben einen aus. Ich hab Schwierigkeiten...« Sie ließ den Satz in der Luft hängen.
Das Mädchen zuckte die Achseln, nahm das Geld, tippte ein paar Zahlen in ihre Registrierkasse ein und reichte Jess eine Karte. » Höllenhunde. Kino eins, gleich links«, erklärte sie. »Der Film hat vor zehn Minuten angefangen.«
Eine Platzanweiserin war nicht da, niemand, der darauf achtete, daß sie nicht in den falschen Vorführsaal ging, niemand, den interessierte, was sie tat.
Sie öffnete die Tür zu Kino eins und tauchte augenblicklich in schwarze Finsternis. Was immer sich auch in diesem Moment auf der Leinwand ereignete, spielte sich offensichtlich. mitten in der Nacht ab. Sie sah überhaupt nichts.
Sie wartete ein paar Minuten, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und war erstaunt, wie wenig sie vom Zuschauerraum erkennen konnte, selbst nachdem die Leinwand hell geworden war.
Langsam ging sie auf der Suche nach einem Sitzplatz den Gang hinunter.
Ein paar Minuten lang sah es so aus, als gäbe es keine freien Plätze mehr. Na klar, dachte Jess, sie dreht mir eine Karte für einen Film an, der total ausverkauft ist. Aber dann entdeckte sie doch einen freien Platz - in der Mitte der vierten Reihe. Natürlich, es ist ja Freitagabend, sagte sie sich. Da geht man mit der Freundin ins Kino. Lauter Pärchen, dachte sie und fühlte sich in ihrem Alleinsein so auffallend wie eine Neonreklame, während sie sich an unwilligen Zuschauern vorbei zu dem freien Platz durchdrängte.
»Setzen Sie sich doch endlich«, zischte hinter ihr jemand ärgerlich.
»Mensch, wie lange brauchen Sie denn noch,
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