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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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verteilte und Jess verzweifelt das Bild einer enthaupteten Schildkröte aus ihren Gedanken zu vertreiben suchte. »Am besten gleich alles. Wie heißt sie? Wie ist sie? Wo habt ihr euch kennengelernt? Wann stellst du sie uns vor?«
    Nein, dachte Jess. Hör auf. Sag nichts. Erzähl uns gar nichts. Bitte, sag kein Wort.
    »Sie heißt Sherry Hasek«, erklärte ihr Vater und schaute voller Stolz in die Runde. »Sie ist ein kleines Persönchen, zierlich, ein bißchen mager, dunkles Haar, fast schwarz. Ich glaube, sie färbt es...«
    Jess schob mit Anstrengung einen Löffel voll Suppe in ihren Mund, spürte, wie die heiße Flüssigkeit ihre Zunge pelzig machte und ihren Gaumen verbrannte. Ihre Mutter war groß gewesen, mit viel Busen, das braune Haar von ersten grauen Strähnen durchzogen. Sie hatte gefärbtes schwarzes Haar immer häßlich gefunden, gesagt, es sähe so unecht aus. Ihr Vater hatte ihr zugestimmt. Konnte er das wirklich vergessen haben? Sie schluckte den Wunsch, ihn daran zu erinnern, hinunter, während die Suppe brennend zu
ihrem Magen hinunterrann. Bilder von verstümmelten Schildkröten drängten sich ihr wiederum auf.
    »Wir haben uns vor ungefähr sechs Monaten im Zeichenkurs kennengelernt«, fuhr ihr Vater fort.
    »Sag bloß nicht, daß sie da Modell gestanden hat.« Barry lachte in seine Suppe.
    »Nein, sie wollte auch lernen, genau wie ich. Sie hat immer gern gezeichnet, aber nie die Zeit dazu gehabt. Genau wie ich.«
    »Ist sie Witwe?« fragte Maureen. »Was ist denn los mit dir, Jess? Schmeckt dir die Suppe nicht?«
    Sie war keine Witwe. Sie war geschieden. Seit beinahe fünfzehn Jahren. Sie war achtundfünfzig Jahre alt, Mutter dreier erwachsener Söhne, und sie arbeitete in einem Antiquitätengeschäft. Sie liebte leuchtende Farben, trug am liebsten lange wehende Röcke und Birkenstocksandalen und war diejenige, die eines Tages die Initiative ergriffen und vorgeschlagen hatte, nach dem Kurs noch gemeinsam eine Tasse Kaffee zu trinken. Sie war offensichtlich eine zielstrebige Person. Und Art Koster war ein Ziel, das anzupeilen sich lohnte.
    Jess bog um eine Ecke und fand sich wieder in der Sheridan Road, stattliche Häuser auf der einen Seite, den Lake Michigan auf der anderen. Wie lange fuhr sie jetzt schon in den dunklen Straßen von Evanston im Kreis herum? Jedenfalls so lange, daß der Regen sie überrascht hatte. Sie schaltete die Scheibenwischer ein, sah, daß einer von ihnen klemmte und sich so mühsam über die Windschutzscheibe bewegte, als sei es eine Herkulesarbeit. Also Regen und nicht Schnee, dachte sie, nicht sicher, was ihr eigentlich lieber war. Vom See wälzte sich Nebel herein.
    Der Oktober ist der unberechenbarste Monat, dachte sie, voller Geister und Schatten.
    Die Leute schwärmten immer von den prachtvollen Herbstfarben, den vielfältigen Tönen von Rot, Orange und Gelb, die das allgegenwärtige
Grün des Sommers zuerst aufbrachen und dann verdrängten. Jess hatte diese Begeisterung nie geteilt. Für sie bedeutete der Farbenwechsel nur, daß die Blätter welk wurden. Und jetzt waren die Bäume beinahe kahl. Die wenigen Blätter, die noch übrig waren, hatten Farbe und Kraft verloren. Nur noch traurige Erinnerung an einst sprühendes Leben. Wie Menschen, die in Altersheime abgeschoben waren, wo der Tod der einzige Besuch war, auf den sie sich verlassen konnten. Einsame Menschen, die allzu lange ohne Liebe hatten leben müssen.
    Natürlich war ihrem Vater die Liebe zu gönnen, dachte Jess, während sie nach rechts abbog. Sie fand sich in einer Straße, die sie nicht kannte. Sie hielt nach einem Schild Ausschau, sah keines, bog an der nächsten Ecke nach links ab. Immer noch kein Straßenschild. Was war los mit den Leuten, die in den Vororten lebten? Wollten sie niemanden wissen lassen, wo sie zu finden waren?
    Sie hatte stets im Herzen der Stadt gelebt, immer im Umkreis derselben drei Häuserblocks, außer während ihrer Ehe mit Don. Als sie noch ein Kind war und ihr Vater für eine Kette von Damenoberbekleidungsgeschäften als Einkäufer gearbeitet hatte, hatten sie in einem Doppelhaus in der Howe Street gewohnt. Als sie zehn Jahre alt war, ihr Vater mittlerweile mit Erfolg sein eigenes Geschäft leitete, waren sie umgezogen, in ein alleinstehendes Einfamilienhaus in der Burling Street, nur einen Häuserblock entfernt. Nichts Besonderes. Nichts irgendwie Avantgardistisches oder architektonisch Zwingendes. Entschieden kein Mies van der Rohe oder Frank Lloyd Wright. Es war

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