Schau Dich Nicht Um
Lady?«
»Entschuldigen Sie«, flüsterte Jess und stieg über ein Knie, das stur vorgeschoben blieb.
Im nächsten Augenblick sank sie auf den freien Platz. Aus Angst, neuerlichen Unwillen zu erregen, zog sie ihren Mantel nicht aus. Rund um sie herum tuschelte es ungehalten, dann wurde es wieder still.
Auf der Leinwand floh ein junger Mann, dessen blaue Augen vor Angst weit aufgerissen waren, vor einem wütenden Mob. Die Menschen verfolgten ihn mit wutverzerrten Gesichtern und drohenden Fäusten, beschimpften ihn, lachten, als er stolperte und stürzte, hetzten ihre zähnefletschenden Bullterrier auf ihn. Sekunden später stürzten sich die Hunde auf den unglücklichen jungen Mann, noch ehe er wieder richtig auf den Beinen war, und rissen ihn erneut zu Boden. Krallen schlugen sich in den Hals des jungen Mannes, und das Blut sprudelte aus der Wunde und tränkte die Leinwand. Die Zuschauer johlten.
Was, zum Teufel, sah sie sich da an?
Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und sah denselben jungen Mann im Bett mit einer sehr schönen Frau, deren lockiges blondes
Haar verführerisch auf ihrem bloßen Busen ausgebreitet lag. Entweder eine Rückblende oder eine sehr schnelle Erholung, dachte Jess und sah zu, wie ihre Zungen im Mund des jeweils anderen verschwanden.
Was ist eigentlich mit dem Dialog? fragte sie sich. Seit sie hier saß, hatte kein Mensch auf der Leinwand auch nur ein Wort gesprochen. Man floh, man tötete, man küßte sich und man kopulierte. Aber niemand sprach.
Vielleicht ist es besser so, sagte sie sich. Stell dir nur vor, wie schön und angenehm es wäre, wenn kein Mensch redete. Ihre Arbeit als Staatsanwältin würde das ganz gewiß ungeheuer erleichtern. Sie würde die Bösewichte einfach erschießen anstatt zu versuchen, launische Geschworene von ihrer Schuld zu überzeugen. Was die Familienschwierigkeiten anging, so würde ein wohlgezielter Kinnhaken dem lästigen Schwager ein für allemal den Wind aus den Segeln nehmen. Und die beunruhigende Ankündigung ihres Vaters hätte sie niemals hören müssen.
Vater verliebt, dachte sie und sah plötzlich sein Bild auf der Leinwand erscheinen, überlebensgroß, als er den Platz des jungen Mannes einnahm und in dessen Rolle schlüpfte. Ihr Vater war es, der jetzt die nackte junge Frau umschlang, ihre vollen Lippen küßte, ihr seidiges blondes Haar um seine Finger wickelte. Jess wollte sich abwenden, aber sie konnte nicht, sie saß wie gebannt, machtlos, Gefangene ihrer eigenen Phantasiebilder. Sie sah, wie ihr Vater das Gesicht der jungen Frau mit seinen großen Händen umschloß, wie das Blond ihres Haares sich in ein von Grau gesprenkeltes Braun färbte. Fältchen von Lebensweisheit zeigten sich um Mund und Augen der jungen Frau. Die Farbe ihrer Augen vertiefte sich, wandelte sich vom hellen Blau zum dunklen Seegrün. Sie drehte den Kopf und sah von der Leinwand zu Jess herunter.
Es war ihre Mutter, wie Jess erkannte, als das träge Lächeln der Frau sie einhüllte. Ihre wunderschöne Mutter.
Sie beugte sich in ihrem Sitz nach vorn, schlang die Arme um ihren Körper und hielt sich ganz fest.
Eine zweite Frau, kleiner, zierlicher, mit rabenschwarzem Haar, in wehendem Chiffon und Birkenstocksandalen gekleidet, tänzelte plötzlich ins Bild und in die Arme ihres Vaters. Ihr Vater merkte nichts von dem Wechsel, während ihre Mutter immer weiter nach außen gedrängt wurde und ihr Bild verblaßte und schließlich verschwand.
Jess schrie unterdrückt auf und krümmte sich vornüber, die Hände auf den Magen gedrückt, als hätte ein Schuß sie getroffen.
»Was ist denn jetzt los?« murmelte jemand.
Jess versuchte, sich wieder aufzusetzen, trotz der Beklemmung, die sie in ihrer Brust spürte. Sie straffte ihre Schultern, drückte ihren Rücken durch, überlegte, ob sich nicht ihr Büstenhalter irgendwie unauffällig öffnen ließ, stellte fest, daß es keine Möglichkeit gab. Ihr war heiß und flau.
Aber ja, kein Wunder, daß ihr flau war. Kein Wunder, daß ihr heiß war. Sie hatte ja ihren Mantel noch an. Das Kino war voll. Sie saßen hier zusammengedrängt wie die Sardinen in der Dose. Kein Wunder, daß sie kaum atmen konnte. Sie konnte froh sein, daß sie nicht ohnmächtig geworden war. Jess krümmte ihre Schultern nach vorn und zog an ihren Ärmeln, riß sich den Mantel herunter, als stünde er in Flammen.
»Herrgott noch mal«, beschwerte sich jemand hinter ihr. »Können Sie nicht mal stillsitzen?«
»Entschuldigen Sie«, flüsterte
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